Mehr Zeit zum Lesen und Denken

Kindlers Neues Literaturlexikon auf CD-ROM

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem 1965 der erste Band von "Kindlers (altem) Literatur Lexikon" erschienen war, zeigte sich rasch, dass diese große Enzyklopädie künftig für jeden, der sich professionell mit Literatur beschäftigt, ungemein hilfreich und kaum noch entbehrlich ist. Rund 18000 Werke der Weltliteratur wurden hier vorgestellt und interpretiert, und zwar in einem Umfang und oft auch mit einer Kompetenz, die dem Leser einen mehr als oberflächlichen Einblick in ihre inhaltliche und formale Substanz, ihre Entstehungsgeschichte und historische Bedeutung vermittelte. Einbezogen wurden auch wichtige Schriften der Philosophie, Religion oder Theologie sowie der Geschichts-, Sozial- und Naturwissenschaft. Ob als Gedächtnisstütze für die oft so erschreckend rasch verblassende Erinnerung an schon Gelesenes, ob zur Information über ach so viele Bücher, die man nicht sobald oder nie lesen kann, ob als Anregung zur künftigen oder als Verständnisangebot für die eben abgeschlossene Lektüre, dieses Werklexikon hat sich als ein konkurrenzloses und überaus nützliches Nachschlagewerk etabliert. Nachdem es 1974 zu einem erschwinglichen Preis bei dtv erschien, fand es weit über 100 000 Käufer.

Nach mehr als zwanzig Jahren war eine überarbeitung und Aktualisierung überfällig. Zwischen 1988 und 1992 erschien "Kindlers Neues Literatur Lexikon" in zwanzig Bänden, für die man allerdings gute dreitausend Mark zahlen musste. Im Vergleich mit dem neuen waren die Defizite des alten Lexikons schnell zu erkennen. Im alten Lexikon war beispielsweise unter Ingeborg Bachmann nur etwas über ihren Erzählungsband "Das dreißigste Jahr" und ihr Hörspiel "Der gute Gott von Manhatten" zu erfahren, nichts über ihre bedeutende Lyrik. Lyrik kam im alten Kindler generell zu kurz. Hölderlin trat als Lyriker überhaupt nicht in Erscheinung, Paul Celan nur mit dem Band "Mohn und Gedächtnis". Unter dem Stichwort "Das lyrische Werk" bietet der neue Kindler, abweichend vom Prinzip der Einzelwerk-Darstellung, jeweils zusammenfassende Artikel, die dem Gewicht der Lyrik bei vielen Autoren endlich Rechnung tragen. In den siebziger Jahren erschienen Bachmanns Roman "Malina", der Erzählungsband "Simultan" und posthum das Romanfragment "Der Fall Franza". Im neuen Kindler wird darüber instruktiv informiert. Wie notwendig die Aktualisierung und Ergänzung war, wird ähnlich im Blick auf andere Autoren sichtbar: Monumentale Werke wie "Die ästhetik des Widerstands" oder Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow" durften in einem Lexikon der achtziger Jahre nicht mehr fehlen. Peter Handke war jetzt nicht mehr nur mit drei Werken, sondern mit fünfzehn vertreten; zu bislang einem Artikel über Gabriel García Marquéz und drei Artikeln über Thomas Bernhard kamen jeweils sechs hinzu; in der verstärkten Berücksichtigung der zeitgenössichen Literaturen Lateinamerikas, Afrikas und Ostasiens (vor allem Japans) fanden zahlreiche neue Autorennamen Eingang in das Lexikon. Aus dem deutschsprachigen Raum waren Anne Duden, Botho Strauß, Gert Hofmann oder auch Johannes Mario Simmel vorher gar nicht existent, und aus Italien etwa Umberto Eco.

Dass nicht nur über Ecos Romane, sondern auch über sein 1975 erschienenes "Traktat zur allgemeinen Semiotik" informiert wird, ist ein Beispiel für den weitgespannten, interdisziplinären Horizont auch des neuen "Kindler". Der zunehmenden Wertschätzung des Sozialphilosophen George Herbert Mead oder den einflussreichen Literaturtheorien eines Michael Bachtin oder Jurij Lotman wurde ebenso Rechnung getragen wie poststruktualistischen Schriften von Roland Barthes, Jaques Derrida, Jaques Lacan oder Michel Foucault. Jean-Francois Lyotards grundlegenden Publikationen zur Postmoderne-Diskussion sind ebenso berücksichtigt wie einige wichtige Schriften von Jürgen Habermas.

Eine Verbesserung war zweifellos auch die veränderte Anordnung der Artikel. Die Suche nach bestimmten Werken, die früher alphabetisch nach Titeln geordnet waren, wurde leichter. Sie finden sich unter dem Namen des Autors. Wer früher nach "Hamlet" suchte, musste den englischen Titel "The Tragicall History of Hamlet..." kennen oder ihn zunächst im Register unter Shakespeare ausfindig machen. Im neuen Kindler kann der Leser die Tragödie gleich unter dem Autorennamen finden. Und für die eher seltenen Fälle, in denen man nur den Titel, aber nicht den Autor kennt, stellt der letzte Band ein Titelregister bereit.

Der Preis für diese Verbesserung war freilich hoch. Nur sie ließ eine komplette Neuausgabe des Lexikons wirklich zwingend erscheinen. Die notwendigen Aktualisierungen und Erweiterungen hätten sich auch in Ergänzungsbänden dem alten Kindler hinzufügen lassen. Stattdessen wurde die erschwingliche Taschenbuchausgabe, die der Neuausgabe Konkurrenz gemacht hätte, aus dem Handel gezogen - mit dem ärgerlichen Effekt, dass das Lexikon über Jahre hinweg für den privaten Interessenten, der keine 3360 DM dafür ausgeben konnte, nicht mehr zu bekommen war. Zwei Generationen von Studenten der Literaturwissenschaft und zahllose andere Interessenten, die das Lexikon, und sei es in der veralteten Fassung, dringend benötigten, hat der Verlag mit dieser dubiosen Marktstrategie erheblich geschadet.
Der Schaden wurde spät behoben, als 1996 die broschierte Studienausgabe auf den Markt kam. Die Lizenzpolitik bleibt für das Publikum allerdings weiterhin höchst unerfreulich. Denn die Studienausgabe ist mittlerweile nicht mehr zu haben - wohl um der jetzt etwa zum gleichen Preis angebotenen Ausgabe auf CD-ROM keine Konkurrenz zu machen. Diese elektronische Ausgabe wiederum entspricht nicht dem neusten Stand der gebundenen Ausgabe, zu der zwei Ergänzungsbände vorliegen.

Abgesehen davon ist die elektronische Publikation des Lexikons jedoch für alle literaturwissenschaftlich arbeitenden PC-Benutzer ein erheblicher Gewinn. In dieser Form entfaltet das Lexikon noch mehr Qualitäten als die gedruckte Fassung. Nach einer relativ kurzen Einarbeitungszeit in das einfach zu handhabende Programm gelingt die Suche nach bestimmten Autoren, Werken oder auch nur bibliographischen Angaben erheblich leichter und schneller. Man kann zudem den Artikeln Notizen hinzufügen, sie ausdrucken, sie ganz oder in Teilen kopieren, speichern, in Word-Dateien einfügen und bearbeiten. Vor allem aber ermöglicht der Kindler auf CD-ROM ganz neue Möglichkeiten der Recherche. Wer beispielsweise wissen will, welche Autoren im Jahr 2000 vor 100 Jahren geboren oder gestorben sind, wer Titel von Werken sucht, in denen das Wort Spiel oder Reise oder Tod oder Liebe oder Krankheit oder eines mit dem anderen kombiniert vorkommt, wer solche Suchaktionen auf einen bestimmten Zeitraum, auf die deutsche, englische oder französische Literatur, auf einzelne literarische Gattungen oder nur auf einen Autor beschränken möchte, kann dies mit Erfolg tun. Gewiss, der elektronische Kindler hat noch seine Kinderkrankheiten. Sie fallen jedoch angesichts seiner Vorzüge kaum ins Gewicht. Bei aller Liebe zum gedruckten Buch: Studenten und sonstigen Dauerbenutzern des Lexikons, die vor der Wahl stünden, sich zum gleichen Preis die elektronische oder eine gedruckte Fassung zu kaufen, wäre die elektronische eher zu empfehlen.

Was man allerdings den gedruckten Bänden schon aufgrund ihres physischen Volumens leicht verzeiht, nämlich dass sie nicht über noch viel mehr Werke der Weltliteratur informieren, wird man bei der Benutzung der CD bald bedauern. Aber vielleicht ist der elektronische Kindler ja nur die vorläufige Basis, aus der in nicht allzu ferner Zukunft eine weit umfassendere Datenbank zur Weltliteratur erwächst. Sie müsste sich nicht auf die bisherigen Informationen über die Werke beschränken, sondern könnte zugleich auch den Zugriff auf diese selbst ermöglichen. Und auch auf die verzeichnete Forschung. Die neuen Möglichkeiten des elektronischen Publizierens erwecken immer neue Begehrlichkeiten. Stillstand ist da nicht in Sicht.

Ist das bedauerlich oder gar beängstigend? Einen viel zu großen Teil ihres Arbeitslebens verbringen Studierende und Lehrende der Kulturwissenschaften immer noch mit der Suche, der Bestellung und dem Verzeichnen von Büchern oder auch mit dem Abschreiben von Zitaten. Zu wünschen ist ihnen mehr Zeit zum Lesen, Denken und Formulieren. Elektronische Publikationen von der Art des Neuen Kindler können dazu erste Hilfe leisten.

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Kindlers Neues Literaturlexikon. Supplementbände, 2 Bände.
Kindler Verlag, München 1998.
99,99 EUR.

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