Die unfreiwillige Wahl, zum Außenseiter zu werden

Deutungen zu "Black Hole" von Charles Burns

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Arbeiten an "Black Hole" erstreckten sich über ca. ein Jahrzehnt. Charles Burns hatte vorher Malerei und Skulptur studiert und mit Comics wenig zu tun gehabt. Art Spiegelman konnte ihn Anfang der 1980er-Jahre als Comiczeichner für sein Comics-Magazin "RAW" gewinnen. Ab 1983 zeichnete Burns unter anderem den Comic "El Borbah". In Deutschland wurde er über verschiedene Arbeiten im Comic-Magazin "Schwermetall" bekannt. So gestaltete er beispielsweise das Cover des Iggy Pop-Albums "Brick by Brick".

Sein umfangreichstes Werk, die graphic novel "Black Hole", ist in Schwarz-Weiß gezeichnet, die Bilder sind unheimlich bis eklig, teilweise surreal. Wiederkehrende Bildmotive und -strukturen, die manchmal ineinander übergehen und sich ablösen, suggerieren einen Zusammenhang der Phänomene; der Subtext ist meist ein sexueller. Etwas wird geteilt, auseinander geschoben oder gebogen, sei es Haut, Büsche, Zweige oder die Schenkel einer Frau. Es gibt vaginal aussehende Öffnungen, sei es ein sezierter Frosch, die Mutation in Form eines kleinen zweiten Mundes am Hals oder ein Schnitt im Fuß. Dies lädt dazu ein, alles mit Bedeutung aufzuladen und dadurch die unheimliche Stimmung zu verstärken. Weil überall Zeichen stehen, vermutet man einen zu entschlüsselnden Sinn. Indem Burns selbst keine Erklärung gibt, sondern nur albtraumhaft-mystische Bilder, wird aus dem unheimlichen Gefühl Beklemmung. Aber Burns versucht nicht so zu tun, als könne er sich jeder Analyse verweigern. Seine Bilder mögen manchmal esoterisch-ornamental aussehen, aber er begibt sich nicht in eine anti-aufklärerische Pose.

Die Handlung spielt - so verrät aber nur der Klappentext - in Seattle in den 1970ern, in der Welt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Deren Leben zwischen Liebschaften, Schule und Partys mit weichen Drogen ist mit einer rätselhaften Seuche verwickelt. Wer sie hat, dessen Körper mutiert auf unterschiedliche Weise: Es reicht von überdimensionierten Pickeln und Beulen über monstrenhafte Entstellungen bis hin zu zombiehaften Auflösungserscheinungen. Diese Seuche ist ein hingenommenes Phänomen; man erfährt auch nicht mehr über sie. Wer sie hat, der hat sie, man weiß nicht, wieso und woher. Wer sie nicht hat, kann sie erwerben und offensichtlich nicht mehr loswerden, aber sie scheint nicht tödlich zu sein. Wer von der Seuche befallen ist und die Möglichkeit hat, ihre Male zu verbergen, lebt weiterhin unter den Gesunden weiter. Mancher weiß von der Ansteckung, manches wird getuschelt, aber das Leben kann weitergehen. Wer es nicht verbergen kann (was nichts mit einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit zu tun hat), der lebt außerhalb, von den Gesunden entfernt, in der Wildnis und kommt nur zurück, um im Müll nach Lebensmitteln und Kleidung zu suchen. Das Erscheinen der Verseuchten löst bei den Normalen Abscheu, aber auch Aggressionen aus. Ansonsten versucht man, sich aus dem Weg zu gehen.

Da man über die Seuche in pathologischer Hinsicht nichts erfährt, weil es weder um ihren Verlauf noch um ihre Heilung geht, interessiert sie offensichtlich nicht als physiologische Erkrankung. Sie wird durch Körperflüssigkeiten übertragen, sprich durch Sex, also liegt es nahe, in "Black Hole" eine Parabel auf das Leben in den Zeiten von AIDS zu sehen. Aber es scheinen mindestens drei ganz andere Ebenen miteinander verwoben zu sein.

Zum einen geht es um das Erwachsenwerden. Hier sind Burns' Bilder manches Mal direkte Bebilderungen von seelischen Zuständen. Eltern verstehen ihre Kinder nicht, wissen nicht, was diesen Sorgen bereitet. Eine Mutter denkt, ihre Tochter Chris gehe wegen eines Jungen, den diese liebt, nicht mehr zur Schule; dabei kann sie sich wegen der kürzlich erworbenen Seuche dort nicht mehr hintrauen. Mit den Veränderungen muss man Abschied nehmen, von dem, was früher war. Dinge, die früher wichtig waren, sind es jetzt nicht mehr. Kindheitsbilder und Turnierauszeichnungen, die das Zimmer schmücken, so merkt Chris, sind für sie bedeutungslos geworden. Es geht ums Anderssein. Chris stellt fest, dass sie infiziert ist: "Ich bin anders, ich werde nie mehr sein wie die anderen." Sie ist verzweifelt wegen einer Veränderung an ihr, die ihr Angst macht, die sie sowohl ihr selbst wie den anderen fremd macht. Die Mutation bewirkt bei ihr, dass sie sich immer wieder häutet. Die Wirbelsäule hinab zieht sich ein feiner Riss durch ihre Haut, von wo aus sie sie sich in einem Stück vom Körper reißen kann. Chris 'fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut'. Veränderungen sind bei Jugendlichen körperliche, sexuelle. Sexualität wird als beunruhigend empfunden. Im Wald stößt Chris auf ein von einem Verseuchten an einen Baum gebundenes Artefakt, wie von einem Naturvolkstamm angebracht, um Fremde abzuschrecken. Es besteht aus einem Puppenkopf, einem Bildfetzen mit Brüsten und aus einem Bildfetzen mit einer Vagina. Kombiniert wurden ein Kindergesicht und Merkmale eines erwachsenen Körpers, zweierlei, das nicht harmoniert. Körper und Geist passen (noch) nicht zusammen.

Zum Zweiten geht es um die 1970er-Jahre, um das Ende der Alternative, der Subkultur. Die Schüler beziehen ihre Drogen von College-Besuchern, die in einer Wohngemeinschaft leben. Dort ist es einerseits cool und es gibt keine Vorschriften - andererseits aber ist das Haus dreckig und runtergekommen, überall liegt Müll herum, der zu wuchern scheint. Es ist ein Ort, der Raum gibt für Freiheit, Entfaltung, wo man sein kann, wie man ist und sein mag. Der von den Bewohnern und seinen Gästen eröffnete Freiraum erweist sich schließlich aber als gefährlich. Die Coolness schlägt um in Aggression, die Freiheit in Schutzlosigkeit. Die wilde Party, die '68 begann, ist offensichtlich zu Ende. In den Trümmern, die sie hinterließ, macht man noch ein wenig weiter.

Zum Dritten geht es um das Verhältnis von Außenseitern und Normalen. Am Ende kommt heraus, dass wer die Seuche hat, zu den nerds gehört: die, die merkwürdig aussehen und sind, die übersehen werden und im Mathe- oder Schachclub sind. Sie werden von den Schönen und Normalen gemieden und tun sich deswegen zwangsweise zusammen; nicht aus Neigung, denn sie gehörten lieber zu den anderen. Chris und Keith, zwei der Hauptpersonen, stecken sich an der Seuche an. Sie gehören zwar zu den Schönen und Normalen, waren aber schon vorher insofern anders, als sie über die nerds nicht spotteten wie die anderen. Ihre "Ansteckung" ist nicht nur eine im virologischen Sinne: Unbewusst müssen sie ein Interesse an den Anderen gehabt haben. Sie gaben einer Neigung nach, die sie dann endgültig zu anderen macht. Sie können über die Seuche nicht nur hinwegsehen, sondern die Mutation am Körper des Geliebten auch annehmen.

Diese drei Ebenen der Darstellung, sowie die Welten der Verseuchten und der Normalen, wie auch die Handlungsorte Wildnis und Stadt/Häuser, werden zeichnerisch verbunden: Müll, Schmutz, Fetzen, Wucherungen, Risse und Ausfaserungen an Pflanzen, Knochen und Körpern finden sich sowohl im Waldcamp der Verseuchten wie im Haus der College-Besucher. Die Bereiche reichen ineinander hinüber. Der Verfall ist überall anwesend und kann sich ausbreiten. Die drei Topoi werden auch erzählerisch verbunden. Im Camp der Verseuchten ernährt man sich ausschließlich von Fast Food und Schokoriegeln: Was wie ein ausgelebter Kindheitswunsch anmutet, wird als Regression durchsichtig. Die Kindheit dauert an, man hat nie gelernt, sich selbst zu ernähren. Im Wald leben die Verseuchten wie Aussteiger. Sie sind unter sich, unter ihresgleichen und können 'frei' sein. Dass sie so sein können, wie sie sind, ist aber nicht freiwillig. Nachdem Chris ihr elterliches Zuhause verlassen hat, kommt sie im Camp an und ist deprimiert. Dave, ein Leidensgenosse, fasst zusammen, was sie im Camp den ganzen Tag machen: "Weißt du, sich treffen, was essen, abhängen...", wie bei einer Party, allerdings die traurige, hoffungslose Farce einer Party, zu der eine jede werden muss, wenn sie nicht aufhört. Sollte "Black Hole" eine Parabel auf Aussteiger sein, dann ist im Waldcamp wie bei den College-Besuchern der coole Lifestyle an sein Ende gekommen. Die Verseuchten vegetieren schließlich in einem leerstehenden Haus vor dem Fernseher noch schlimmer dahin als ihre Eltern.

Burns gibt eine Perspektive. Am Ende setzen sich Chris und Keith unabhängig voneinander von den Verseuchten ab. Keith braucht lange für eine Entscheidung, aber er erkennt, dass er so nicht weitermachen will. Er wird ordentlich, achtet auf sein äußeres Erscheinungsbild und geht arbeiten. Auch für ihn ist die Party zu Ende. Er kehrt unglücklich in die Normalität zurück - aber er nimmt die Male eines Verseuchten mit. Zwar versteckt er sie, aber er versucht nicht mehr, sie loszuwerden. Etwas bleibt aus der Zeit, die in eine Sackgasse führte.


Titelbild

Charles Burns: Black Hole. Hardcover. Format: 24 cm x 16,5 cm.
Pantheon Books, New York 2005.
368 Seiten, 28,50 EUR.
ISBN-10: 037542380X

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Titelbild

Charles Burns: Black Hole. Band 6. Softcover. Format: 26 cm x 17 cm.
Reprodukt Verlag, Berlin 2006.
80 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3938511109

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