Melodien der Vergangenheit

Die unchronologischen Chroniken des António Lobo Antunes

Von Alexander SupadyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Supady

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes gehört in Deutschland sicher nicht zu den einem breiten Publikum bekannten Literaten. Nur mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung des Romans "Handbuch der Inquisitoren" im Jahr 1997 erreichte er eine zuvor ungekannt breite Öffentlichkeit - das Buch war sogar kurzzeitig auf den Bestsellerlisten zu finden. Mit den nachfolgenden Romanen gelang es ihm jedoch nicht diesen (Publikums-) Erfolg zu wiederholen.

Der Grund dafür liegt in den Büchern selbst, im Schreibstil des Autors. Die stilistischen Eigenheiten, die zumal in den späten Veröffentlichungen Lobo Antunes' - mittlerweile sind 17 Romane in deutscher Übersetzung erschienen - immer mehr zutage und in den Vordergrund treten, wirken sicher auf viele Leser abschreckend. Er experimentiert mit der Sprache. Er schreibt nicht, er komponiert aus den Noten der Sprache mehrstimmige Melodien lyrischer Prosa. Diese Melodien sind einzigartig und brillant, wie in den musikalischen Werken vieler zeitgenössischer Komponisten tauchen darin jedoch komplizierte Themen und Variationen auf sowie schwerverdauliche Disharmonien, die die Aufnahme erschweren.

Nun ist in der Sammlung Luchterhand unter dem Titel "Buch der Chroniken" eine Sammlung von 106 kurzen Prosastücken erschienen, die im Original erstmals von 1993 bis 1998 als vierzehntägige Veröffentlichungen in der Sonntagsbeilage der portugiesischen Tageszeitung "Publico" veröffentlicht worden sind; einige wenige dieser 'Chroniken' sind bereits vor nunmehr siebn Jahren in der schmalen Sammlung "Sonette an Christus" (1999) in deutscher Sprache erschienen.

Schon die Bestimmung der literarischen Form dieser Stücke bereitet Kopfzerbrechen. Der Autor benennt sie lakonisch als Chroniken und stellt schon damit seine augenzwinkernde Ironie vor, die den Inhalt der meisten dieser Stücke wie auch seine Romane durchzieht. Keine Bezeichnung könnte weniger der wahren Natur dieser Kurzprosa entsprechen. Chroniken als Mittel des Versuchs einer möglichst exakten und objektiven Geschichtsschreibung zeichnen sich durch Beschreibung der genauen zeitlichen Abfolge der Ereignisse aus. Genau diese zeitliche Chronologie ist es, die sich in den späten Veröffentlichungen Lobo Antunes' auflöst und verloren geht. Nicht das zeitliche und örtliche Auseinandertrennen voneinander abhängiger (und unabhängiger) Erlebnisse des Autors und seiner Protagonisten ist sein Ziel, sondern vielmehr die synthetische Verdichtung. So entstehen Sprachkonvolute, in denen es oft unmöglich ist, die Erlebnisse und Gedanken des Einzelnen aus dem großen Ganzen herauszutrennen sowie das Jetzt von dem Früher und dem Später loszulösen.

Sprachlich-stilistisch bewegen sich die geistreichen, prägnant formulierten Stücke im Einflussbereich der Glossen wie auch der Aphorismen, ihre regelmäßige Erstveröffentlichung in einer Tageszeitung stellen sie in die Nähe einer Kolumne.

Die Chroniken, formuliert mit leichtem Witz und beißender Schärfe, richten einen sehr persönlichen Blick auf die Vergangenheit des Autors. Mit der wehmütigen Sehnsucht einer Tagträumerei erzählt er von den Helden seiner Kindheit, beschreibt die dekadente großbürgerliche Gesellschaft im Portugal der Salazar-Diktatur und verarbeitet das ewige Trauma seines Einsatzes im Kolonialkrieg Portugals in Angola. Es folgen Bemerkungen zum Alltag im psychiatrischen Krankenhaus, und er erzählt von seiner Familie und seinen Kindern, von Freunden und von flüchtigen Erlebnissen mit Unbekannten. Er erzählt aus seinem Leben.

Anders als die Werbetexte des Verlages und die Anpreisungen der Klappentexte zu suggerieren versuchen, unterscheiden sich diese Texte inhaltlich und stilistisch nicht von den (späten) Romanen des Autors. Die sprachliche Vielfalt, den Witz, die Ironie und den Sarkasmus, die kindliche Naivität und die Melancholie, alle diese Elemente kennen wir schon aus den langatmigen, breit angelegten Romanwerken Lobo Antunes'. In den 'Chroniken' hat der Autor diese Elemente ebenso gekonnt und sicher verarbeitet wie ihm dies in seinen Romanen gelingt.


Titelbild

António Lobo Antunes: Buch der Chroniken.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
384 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3630620868

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