Chaitanya spuckte Götter

Eine Anthologie stellt englischsprachige Gedichte von indischen Autoren vor

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Tiger, kein Dschungel, keine Kobras oder Mungos und keine Yogis. Nein, die indischen Dichter leben nicht im mythischen Kipling-Land - wenn sie das denn je überhaupt taten. Sie leben in einem der modernsten Länder der Welt, sie schreiben über die Moderne, und sie schreiben modern: "Einmal fuhr ich / auf der Autobahn / nach Mexiko / hinter einem verbeulten / Mustang / der früher blau gewesen war / mit staubigem Rückfenster / der Wind sang tatsächlich / für mich", schreibt A. K. Ramanujan in seinem fast beatnikhaft langen Gedicht "Autobahnstriptease". Und trotzdem haben auch indische Dichter eine tiefe Bindung an ihre Heimat, selbst in Chicago: "Achte auf jeden Schritt. Die Sicht könnte dich blind / an unerwarteten Orten treffen. // Die Ampel springt auf Gelb / an der Ecke 57. Straße und Dorchester, du stolperst, / versinkst in einer Vision von Waldbränden, / gerätst in einen schäumenden Himalayafluss, // reißend, lautlos."

Das ist vielleicht das Spannendste an diesen Dichtern: Dass sie uns eine Vision von der Welt mitteilen, die wir nur schwer teilen können, die für uns exotisch ist, für sie aber gleichzeitig Alltag, private Mythologie und ein alter, mit Millionen geteilter Erfahrungsschatz. Und dass sie in einer Sprache reden und träumen können, die wir teilen und die uns doch auch fremd ist.

Viele indische Dichter sprechen und schreiben nämlich nicht in einer der vielen indischen Sprachen. Manche schreiben ihre Gedichte in Englisch. Und oft vermischen sich bei ihnen die Sprachen, sie überlagern und durchdringen sich: Kannada, Tamil und Englisch bei Ramanujan, bei anderen fließt Urdu, Otiya oder Marathi in ihren Rhythmus, in den Sprachuntergrund, in die Bilder. Der Dichter Adil Jussawalla hat einmal gesagt, in seinem Kopf "krabbeln viele Sprachen".

Eine Anthologie, gerade eben erschienen, stellt uns zwölf dieser indischen, auf Englisch dichtenden Autoren vor. Der Englischprofessor Arvind Krishna Mehrotra erzählt in frechen, oft recht persönlichen, manchmal sanft ironischen Vorworten und Biografien von ihnen und ihren Problemen mit den Sprachen. Es sind Dichter, von denen wir (mit der Ausnahme von Vikram Seth) wohl noch nie gehört haben und auch nie wieder hören werden. Das Frankfurter Gastland "Indien" hat den Heidelberger Wunderhorn Verlag jedenfalls dazu angeregt, sie zu übersetzen.

Dabei sind so kurze, halb mythologische Gedichte wie "Chaitanya" von Arun Kolatkar ("süß wie trauben / sind die steine von jejuri / sagte chaitanya // warf einen stein / in den mund / und spuckte götter", aber auch langatmende wie der "Falke" von Keki Daruwalla, in dem es u. a. heißt "Sein Herz ist ein brennender Stall / voll wiehernder Pferde. / Sein Blut schreibt Geschichten ins zerdrückte Gras! / Seine Bewegungen, ein Gekritzel auf der Seite des Todes."

Es sind prägnante, "Überlebenslieder" wie von der im katholischen Milieu aufgewachsenen Eunice de Souza: "Man kann nicht behaupten, / sie hätten es nicht versucht. / Muttis redeten nie von der Regel. / Eine Nonne schrie: Du vulgäres Ding / sag nicht Büstenhalter / sag Blütenfalter. / [...] Der Pfarrer wetterte: / Geht nie allein mit einem Mann / Nie allein / und auch nach der Verlobung / nur leidenschaftslose Küsse. // Mit sechzehn hat mich Phoebe gefragt: / Kann es passieren, wenn man tanzen geht / ich meine du weißt schon, / dass man beim Tanzen / schwanger wird und so? / Ich, mit sechzehn, versicherte ihr, / das sei möglich."

Es sind Liebesgedichte von herzzerreißender Schönheit dabei, todessehnsüchtige, tastend-suchende und aggressiv-aufbegehrende, postmodern und imagistisch auf Ezra Pound bezogene, "Gunga Din" ebenso wie Caliban heraufzitierende Gedichte, traurig emotionale und klar analysierende, romantische und streng gebaute, erinnerungssüchtige und zukunftszielende, fernwehvolle und sehnlich beschreibende, von Kaschmir schwärmende, "wo das Jahr / vier klare Jahreszeiten hat", von "der Tiefebene von Lucknow / und der eigenen Jahreszeit / des Monsun, wenn Krischnas // Flöte an den Ufern des Jamuna / zu hören ist".

Es ist eine sehr schöne Auswahl, die ein klein wenig von Indien zeigt, viel Sprachschönheit und Bilderkraft vor allem. Schade ist nur, dass die vielen fremden Ausdrücke und Anspielungen nicht erläutert werden und dass die Auswahl aus Platzgründen nicht zweisprachig sein kann: Wie gerne hätte man das alles auch noch in dem eigenen Sprachrhythmus der Dichter mitverfolgt.


Titelbild

Arvind Krishna Mehrotra (Hg.): Indische Dichter der Gegenwart. Die Oxford-Anthologie englischsprachiger Lyrik Indiens.
Übersetzt aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt, Ralf Thenior, Hans Thill u. a.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2006.
207 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 388423269X

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