Musikgeschichten

Albrecht Riethmülller wirft Blicke auf Musik und Politik zwischen 1925 und 1945

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schreibt man Musikgeschichte? Als Auftritt der großen Komponisten mit ihren Meisterwerken? Als Abfolge oder Gleichzeitigkeit von Epochen oder Stilen, als ihr Gegeneinander? Oder als Instrumenten- und Technikgeschichte, als Entwicklung der Erzeugung von Tönen und ihrer medialen Verbreitung? Als Sozialgeschichte der Musiker und ihres Publikums? Oder als Geschichte der politischen Herrschaft und ihrer Folgen im Bereich der Kunst?

Das von Albrecht Riethmüller herausgegebene Buch zur Geschichte der Musik von 1925 bis 1945, als Band 2 im insgesamt zwölfbändigen "Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert" erschienen, berücksichtigt alle diese Momente. Zwischen übergreifenden Darstellungen sind in drei Blöcken 25 Werke vorgestellt. Wie wenig sich sogar in einem Land die ästhetischen Grundsätze von Komponisten und ihre Umsetzung in Werke sich einer klaren Epochengliederung fügen, belegt Riethmüller überzeugend in seiner Einleitung. Dabei ist, wie er zeigt, nicht einmal ein Gegeneinander der Schulen klar auszumachen. 1930/31 fand Paul Hindemith, der damals und bis heute als Vertreter der Neuen Sachlichkeit galt und gilt, nichts dabei, sein Oratorium "Das Unaufhörliche" auf einen expressionistischen Text Gottfried Benns zu komponieren. Geläufige Einteilungen sind auch, wie Guido Heldt in seinem Kapitel zum "Abschied von den 'Roaring Twenties'" feststellt, in der US-amerikanischen Musikgeschichte konterkariert: Während die Avantgardisten im Gefolge von Charles Ives ein kunstreligiöses Modell aus dem 19. Jahrhundert radikalisierten, zielten Komponisten wie Aaron Copland oder Roy Harris, im Paris der 20er-Jahre neoklassizistisch ausgebildet, auf ein allgemeinverständliches Musizieren, das sie aber zu einer amerikanischen Nationalmusik führte, die ihrerseits wie eine Nachzüglerin der spätromantisch geprägten nord- und osteuropäischen Nationalmusiken um 1900 wirkt. Angesichts solcher Verhältnisse erscheint Heldts Zwischenfazit, so arg es nach Notlösung aussieht, als der einzige Ausweg: "Wenn die Synthese der pluralen Musiklandschaft der Zwischenkriegszeit ein so heikles Unterfangen ist, fragt man vielleicht besser, ob nicht 'Pluralität' an sich eine definierende Eigenschaft dieser Landschaft darstellt".

Allerdings dürften, schaut man nur genau genug hin, derartige Ambivalenzen in jedem Zeitalter auftauchen. Auf diese Weise zielte, unbefriedigend genug, jeder musikgeschichtliche Versuch einer Klassifizierung darauf, dass es eben immer plural zugegangen sei. Einen der Auswege aus dem Labyrinth der Stile bietet die Technikgeschichte. Tatsächlich entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig neue Möglichkeiten des Hörens. Nicht nur, dass das Grammophon sich verbreitete und in den 20er-Jahren für immer mehr Käufer erschwinglich wurde; der schnelle Erfolg des Radios führte, wie Heldt erläutert, zur Veränderung sowohl von Hörgelegenheiten als auch von Hörweisen und hatte zum Teil sogar Einflüsse auf neue Kompositionen.

Wohl kaum je haben politische Entscheidungen so direkt und auch gewaltsam in den Lauf der Musikgeschichte und das Leben von Musikern eingegriffen wie in den 30er- und 40er-Jahren. Deshalb ist die Versuchung groß, die Musikgeschichte dieser Zeit anhand politischer Ereignisse zu strukturieren. Bereits für die Weimarer Republik konstatiert Saskia Jaszoltowski eine Politisierung der Musik - zu Recht, ruft man sich die Diffamierung der Neuen Musik als kulturbolschewistisch in Erinnerung. Kaum später erging es modernen Komponisten dort, wo tatsächlich Bolschewisten regierten, nicht besser. In einem eigenen, umfangreichen Kapitel zeichnet Friedrich Geiger die repressive Musikpolitik in Deutschland nach 1933, der Sowjetunion und dem faschistischen Italien nach. Überzeugend nach einzelnen Entwicklungsphasen unterteilend, kommt er dabei zu durchaus differenzierenden Ergebnissen. So unterscheidet er den stalinistischen Ansatz, die Produktion von Musik zu lenken, von dem im deutschen Faschismus, der sich nach der Verdrängung von aus politischen oder rassistischen Gründen missliebigen Komponisten auf die Beurteilung des fertigen Werks konzentrierte. Leider geht Geiger nicht auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen ein, in denen die verschiedenen Ansätze begründet sein mögen.

In einem weiteren Beitrag zeichnet Geiger die deutsche Instrumentalisierung von Musik für den Zweiten Weltkrieg nach. Musik hatte Propagandafunktion, zudem wurden Instrumente und Notenbestände in den besetzten Gebieten geplündert. Die Ausgrenzung der jüdischen Opfer wurde radikalisiert: War schon ab 1933 das Musizieren von Menschen, die das Regime als Juden klassifizierte, auf den "Jüdischen Kulturbund" beschränkt, der so unfreiwillige Hilfe bei der Erfassung der wenig später Ermordeten leistete, so diente später das reiche Musikleben im Lager Theresienstadt dazu, die Außenwelt über die tatsächlich schrecklichen Zustände zu täuschen. Schon zuvor hatte Musik in KZs vielfältige Funktionen gehabt: von der Demütigung der Häftlinge, die gezwungen wurden, Nazi-Lieder zu singen, bis zur physischen Belastung, die das befohlene laute Singen für erschöpfte Strafarbeiter haben musste. Im Schlussteil weist Albrecht Riethmüller dann nach, dass 1945 tatsächlich keine "Stunde Null" bedeutete, dass die Musikwissenschaftler und Musiker, die die Nazi-Herrschaft gestützt hatten, keinesfalls verschwanden und auch ihre Ideologien ein zähes Nachleben hatten. Gleichzeitig aber zeigt er, dass es tatsächlich Neuansätze und dann - sehr, sehr spät, als sie kaum einem Lebenden mehr schaden konnten - Ansätze zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit gab.

Diese an den Diktaturen orientierten Kapitel erwecken den Eindruck, dass vom Punkt der Politik aus tatsächlich noch eine konsistente Musikgeschichte zu schreiben ist. Doch stellt sich eine fatale Folge ein: Die deutsche Musik rückt einmal mehr ins Zentrum. Riethmüller, der schon früher das nationale Ideologem von der Musik als der deutschesten der Künste kritisiert hat, schafft mit seinem Band, der deutsche Verbrechen an Musikern und mithilfe von Musik ins Zentrum stellt, eine Art Spiegelbild zur vergangenen Hochschätzung des Deutschen.

Dabei sind die politischen Themen, die im Band breiten Raum einnehmen, wichtige Forschungsgegenstände; doch wenn Alfred Rosenbergs "Sonderstab" Musik auf drei und der "Jüdische Kulturbund" auf knapp fünf Seiten geschildert werden, hingegen die Entwicklung in Skandinavien gar nicht und die in Großbritannien und Lateinamerika beinahe nur in Werkbeschreibungen vorkommt, verweist das im Rahmen einer Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts auf ein Missverhältnis. Ähnlich problematisch ist, wie russisch-sowjetische Musik vorgestellt ist: nämlich fast ausschließlich als Objekt stalinistischer Lenkung. Ohne das Ausmaß der Unterdrückung für die Musiker zu verharmlosen, lässt sich doch fragen, ob nicht dieser Ansatz die Komponisten ein zweites Mal zu Opfern reduziert, indem nämlich ihre Werke nur noch als Indikator politischer Verhältnisse dienen.

Nur zum Teil vermögen die Werkbeschreibungen hier einen Ausgleich zu schaffen. Der Zugriff, den die verschiedenen Beiträger wählen, ist zu unterschiedlich, als dass ein Ganzes entstehen könnte. So geht es in Jörg Siepermanns Text zu Schostakowitschs Fünfter Sinfonie um die meist politisch bedingten Lesarten des Werks und treten Fragen kompositorischer Qualität ganz zurück. Umgekehrt schildert Jürgen Maehler korrekt, doch etwas umständlich die langwierige Entstehung von Richard Strauss' im Krieg komponierter Oper "Capriccio", ohne die Frage auch nur zu streifen, ob nicht ein ins 18. Jahrhundert zurückverlegtes "Konversationsstück mit Musik" über das Primat von Text oder Musik auf der Opernbühne im Uraufführungsjahr 1942 nicht auch eine eskapistische Funktion haben konnte. Es finden sich allerdings viele instruktive Darstellungen; etwa die zu Orffs "Carmina Burana" von Markus Bandur, der ohne vorschnelle Aufregung, doch umso einleuchtender die Berührungspunkte von Orffs Ästhetik mit der des deutschen Faschismus aufzeigt.

Es wären noch viele überzeugende Vorstellungen von Werken zu nennen, auch solche, die mit Politik nichts zu tun haben; exemplarisch seien die zu Georges Enescus "Œdipe" (Jörg Siepermann) und zu Benjamin Brittens "Peter Grimes" (Guido Heldt) genannt. Die Anordnung ist erhellend, indem anschaulich wird, welch verschiedenartige Musik gleichzeitig komponiert wurde. Die Trennung von Werken einerseits, musik- und politikgeschichtlichen Überblicksdarstellungen andererseits ist aber insofern fatal, als nun Musikgeschichte sich weitgehend abgelöst vom Komponierten zu ereignen scheint. Zudem sind die verschiedenen Stränge: Politik, Technik und Stilpluralismus nirgends konsequent miteinander verbunden.

Der Band, der im Einzelnen durchaus wertvolle Einblicke eröffnet, dokumentiert daher als Ganzer günstigstenfalls ein Zwischenstadium der Musikgeschichtsschreibung: einen Zustand nach dem Zerfall falscher Gewissheiten, doch vor einer neuen Integration. Aufgabe wäre nun, im scheinbar Unvereinbaren neue Beziehungen zu entdecken und die Widersprüche, die dabei auftauchen, nicht falsch als Einladung zu einem unverbindlichen Pluralismus zu verstehen. Die Einheit einer Epoche nämlich ist kaum je die einer gemeinsamen Antwort, sondern die einer konflikthaften Arbeit an je bestimmten Widersprüchen, die musikgeschichtlich erst noch herauszustellen sind.


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Albrecht Riethmüller (Hg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert. 1925-1945.
Laaber Verlag, Laaber 2006.
352 Seiten, 114,00 EUR.
ISBN-10: 3890074227

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