Den Markt ins Fegefeuer!

Die Essayisten in Jens Jessens Sammelband fordern die Läuterung des Kapitalismus

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Publizist Jens Jessen versammelt einige namhafte Autoren - unter ihnen der Philosoph Charles Taylor, der Politikberater Jeremy Rifkin und bedeutende Schriftsteller wie Juri Andruchowytsch und Amitav Ghosh - und lässt sie den Abgesang auf den Markt als Allheilmittel anstimmen, ein Requiem auf das kapitalistische System in seiner neoliberalen oder neokonservativen Gestalt.

Aber da es ja ein Leben nach dem Tode gibt, gelangt der Markt ins Fegefeuer, das er einst für die Menschheit entfachen sollte: "Alles irgend durch Regeln Gebundene, Kontrollierbare und darum Statische muss verdampfen vor dem dynamischen Prinzip der Bewegung. Alles Individuelle, Traditionsbestimmte, kulturell Besondere und Widerständige soll durch den Kapitalismus wie durch ein reinigendes Fegefeuer, an dessen Ende die eine, gleichförmige und erlöste Welt steht." Nun also soll der Markt selbst ins Purgatorium - Ironie des Schicksals.

Das Bild des Fegefeuers, so gewendet, suggeriert die Möglichkeit, dass es eine reinigende Läuterung für den Kapitalismus geben kann, eine letzte Bewährungschance, einen Prozess der Neuausrichtung, aus dem er gerechtfertigt hervorgeht. Doch das verlangt Reue und diese setzt wiederum die Erkenntnis voraus, gesündigt zu haben, um im Bild des Titels zu bleiben. Ob diese Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung wirklich vorhanden ist, darf - auch und gerade nach der Lektüre der kritischen Texte - bezweifelt werden, denn die Selbsterhaltungskraft des Marktes ist groß ("Das System produziert die Menschen, die es gebrauchen kann", schreibt Ernst-Wilhelm Händler) und die herrschende Meinung scheint die Probleme nicht für Unzulänglichkeiten des Systems, sondern für einen Ausdruck dessen zu halten, dass man das System "Markt" nicht voll zur Entfaltung kommen lässt und mit dem Konträrsystem "Staat" an allen Ecken und Enden geißelt. Nur wenn der Markt von seinen Fesseln befreit werde, gehe es der Wirtschaft gut, und nur, wenn es der Wirtschaft gut gehe, gehe es auch den Menschen gut. Soweit das Credo der marktgläubigen Macher. Die Realität zeigt unterdessen ein anderes Bild: die Marktwirtschaft scheint ein Spiel mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern zu sein.

Allen Essays ist zu eigen, dass sie in ihrer Kritik an diesem Spiel nicht die sozialistische Alternative anpreisen, sondern den Kapitalismus grundsätzlich favorisieren, aber dessen Janusköpfigkeit in den Blick nehmen, also die Tatsache, dass er, wie Charles Taylor bemerkt, "die innovativste und kreativste Wirtschaftsordnung ist und zugleich auch die zerstörerischste". Zerstörerisch für die Umwelt, die Freiheit des Menschen und die Geborgenheit des gesellschaftlichen Sicherheits- und Zusammengehörigkeitsgefühls. Brutaler Ellenbogenegoismus, der Zwang zur Flexibilität, die gnadenlose Ausbeutung von Ressourcen (zu denen auch Menschen zählen) und die Ersetzung von Freiheit durch Wahlfreiheit (Taylor), all das eint die Essayisten in der Ansicht, "dass der Kapitalismus, der dem Westen Jahrzehnte märchenhaften Wohlstand beschert hat, heute nur mehr als Bedrohung wahrgenommen werden könne" (Jessen).

Was tun, angesichts dieser Bedrohung? Diese Frage bleibt weitgehend unbeantwortet. Das meiste, was die Autoren vorbringen, ist wohlbekannte Problemdiagnostik. Es wird zwar dadurch, dass man meint, es schon öfter gehört und gelesen zu haben, nicht falsch, bloß: Die Konstruktion von tragfähigen Lösungsperspektiven gerät etwas zu kurz. Die 6 bis 8-seitigen Statements sind schon vom Umfang her nicht geeignet für eine differenzierte Aufzeichnung von Auswegen. So bleibt es leider meist bei der düsteren Diagnose und dem Wunsch nach Veränderung im Sinne eines versöhnlichen Ausgleichs zwischen den Kräften des Marktes und dem gezielten Kurieren seiner Schwächen, also die Sehnsucht nach dem, was mal "soziale Marktwirtschaft" genannt oder als "Dritter Weg" diskutiert wurde.

Zwei Beiträge fallen auf, der Aufsatz "Europa, wir brauchen dich" von Jeremy Rifkin und der zusammenfassende Text des Herausgebers ("Fegefeuer des Marktes"), der einen hochinteressanten Vergleich des Kapitalismus mit dem Totalitarismus vornimmt. Er stellt den Analysen einiger Autoren seines Bandes Hannah Arends Charakterisierung des Totalitarismus gegenüber und offenbart auf diese Weise eine verblüffende Parallele zwischen dem System der freien Marktwirtschaft und totalitären Systemen.

Bleibt auch Jesse dabei im Diagnosestadium stehen, so zeigt Rifkin mit dem Verweis auf die Europäische Union als institutionellen Garanten jenes "Dritten Wegs" zumindest eine therapeutische Richtung auf, ausgehend von der Analyse, dass die beiden dominanten Ideologien des Industriezeitalters, der Kapitalismus und der Kommunismus, "erbärmlich gescheitert" sind, "weil ihre Kerndogmen nicht hinreichend mit dem Gegengift der jeweils anderen Seite austariert waren und so nicht die Kontroll- und Ausgleichsmechanismen entwickelt wurden, die für eine Welt nötig sind, welche für alle lebenswert ist".

Die Europäische Union mit ihren wirtschaftspolitischen Einrichtungen, aber auch mit ihrer - vorerst gescheiterten - Verfassung, die genau diesen Ausgleich suche, sei nun, so Rifkins These, der Ort, wo dieses Austarieren von Gift und Gegengift stattfinde. Doch: "Unglückseligerweise droht die gegenwärtige wirtschaftliche Debatte in Europa die öffentliche Meinung extrem zu polarisieren - die ungehinderten Marktkräfte und das bürokratische Diktat eines Wohlfahrtsstaates werden gegeneinander ausgespielt." Europas Aufgabe sei es, aus diesem Dilemma eine neue Wirtschaftsordnung zu entwickeln, die Eigeninteresse mit Verantwortung, Unternehmergeist mit Solidarität, die unsichtbare Hand des Marktes mit der sichtbaren Hand des Staates (oder eben Staatenbundes) verbindet. Dann könne es Europa gar gelingen, "ein Modell" zu schaffen und ein "Vorbild für die ganze Welt" zu sein.

Insgesamt liegt in "Fegefeuer des Marktes. Die Zukunft des Kapitalismus" eine Reihe von unterhaltsamen und in ihrer Klarheit bestechenden Texten vor, deren Botschaften zwar nur geringfügig über die populären Stereotype des deutschen Berufsbedenkenträgertums hinausweisen, doch in der vorhandenen Dichte und Breite ihre Wirkung nicht verfehlen. Es ist ein besonderes Kennzeichen des Bandes, dass neben den schon per definitionem kritischen Schriftstellern, Philosophen und Soziologen auch die Politik und Wirtschaft zu Wort kommt und alle im Prinzip der Meinung sind: So geht es nicht weiter! Dieser Konsens dürfte insoweit zumindest bei den Leserinnen und Lesern die gewünschte Läuterung hervorrufen. Bleibt zu hoffen, dass der Band vielen Entscheidungsträgern in die Hände fällt.


Titelbild

Jens Jessen (Hg.): Fegefeuer des Marktes. Die Zukunft des Kapitalismus.
Pantheon Verlag, München 2006.
123 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3570550036

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