Keine Jugendsünde

Klaus Wagenbachs Biografie des jungen Kafka in einer aktualisierten Neuausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Witwen genießen in der Literaturgeschichte, was ihre Verdienste um die Werke ihrer Verblichenen angeht, einen eher zweifelhaften Ruf. Bei Klaus Wagenbach ist das anders. "Kafkas dienstälteste lebende Witwe", wie sich der Verleger mit sympathischer Selbstironie gerne nennt, ist so etwas wie der Initiator der neueren Kafka-Forschung. Seine 1958 erschienene Dissertation, eine Jugendbiografie des Prager Dichters, war ein materialgesättigter Meilenstein, ein Quellenwerk, aus dem Autoren wie Reiner Stach und Peter-André Alt bis heute schöpfen. Die Erstausgabe im Berner A. Francke Verlag ist seit Jahrzehnten vergriffen und selbst antiquarisch kaum noch erhältlich. Jetzt, fast 50 Jahre später, hat der 76-Jährige im eigenen Verlag eine aktualisierte und verbesserte Neuausgabe vorgelegt, ergänzt um neuere Aufsätze über Kafkas Sanatorien und Fabriken.

Als im Jahr 2002 Reiner Stach seine viel gerühmte Kafka-Biografie vorlegte, ließ er sie erst nach den Schul- und Universitätsjahren beginnen. Solange der Nachlass Max Brods noch unzugänglich sei, entschuldigte er sich, sei für diesen Lebensabschnitt Kafkas Wagenbachs Werk noch immer unentbehrlich. Teile des Brod-Archivs mit bis dahin unbekannten Briefen und Tagebuchaufzeichnungen konnte Wagenbach schon in den 50er-Jahre einsehen, als erster Germanist. Seine Reise nach Israel, für einen Deutschen damals alles andere als selbstverständlich, ist heute genauso legendär wie seine Recherche in Prag: Für die Kommunisten war Kafka ein unerwünschter Dichter, weshalb sich Wagenbach offiziell für den rasenden Reporter Egon Erwin Kisch interessierte: Von "Ki" zu "Ka" war es in den Archiven nur ein kleiner Schritt.

Dort entdeckte er Kafkas Studienbuch und Personalakte, sogar Teile seiner Bibliothek, befragte Zeitzeugen. So war es erstmals möglich, den Dichter zu "erden" und seine Selbststilisierungen zu hinterfragen. Das war in der Hochzeit der Werkimmanenz auch dringend nötig: Die Nachkriegs-Germanistik hatte Kafka längst zum Propheten und Asketen erklärt und schwadronierte gern vom Numinosen und Absurden. Für sie war der Wagenbach'sche Kafka, der sich in seiner Einsamkeit zu Dirnen und Kellnerinnen flüchtete und der auf Inspektionsreisen im Auftrag seiner Versicherung skrupellosen Fabrikanten die Stirn bot, eine Provokation.

Vor allem den "linken" Kafka, der, wie Wagenbach nachweisen konnte, mit einer roten Nelke im Knopfloch Versammlungen tschechischer Anarchisten besuchte und utopische Programme von einer "besitzlosen Arbeiterschaft" entwarf, wollte manch namhafter Germanist "ins Reich der Phantasie" verbannt sehen. Max Brod, der die Legende vom Heiligen Kafka in die Welt gesetzt hatte, kündigte Wagenbach nach der Lektüre gar die Freundschaft. Lesenswert sind daher auch Wagenbachs Rückblicke auf die Wirkungsgeschichte seiner Arbeit.


Titelbild

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Biographie seiner Jugend.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006.
327 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3803136202

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