Wissenschaftswissenschaft

Ein Sammelband zur Methodologie der Disziplingeschichte

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich werde nicht vergessen wie ein früherer Mitschüler von mir, ein Einserkandidat, im Leistungskurs Mathematik auf die Erwähnung des Namens Euklid mit einem verblüfften "Wer ist das denn?" reagierte. Dies Beispiel lässt sich leider verallgemeinern. Während manche Disziplinen, wie z. B. die Medizin, ihre eigene Geschichte sehr gut in ihren Lehr- und Ausbildungsbetrieb integriert haben, verbleiben andere wie die Mathematik in bestaunenswerter Unkenntnis, selbst wenn sie als Wissenschaften in vorbildlicher Weise organisiert sind.

Doch wie soll eine Geschichtsschreibung wissenschaftlicher Disziplinen überhaupt aussehen? Das Ziel kann wohl nicht sein, die Entwicklung bis zum Status quo zu beschreiben, um sich dann in der Gewissheit zurücklehnen zu können: man habe es doch herrlich weit gebracht. Nein, es muss auch darum gehen Irr- und Nebenwege, Falsch- und Fehlentwicklungen, Abweichungen und Nebenströmungen aufzuzeigen, später wieder verworfene Entwicklungslinien zu skizzieren, um die ganze Komplexität der Entwicklung einer Wissenschaft frei von einer ex post facto hineininterpretierten Teleologie deutlich zu machen.

Mit dieser Problematik beschäftigte sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstütztes Projekt an der Universität Erlangen am Beispiel der relativ jungen Disziplin der formalen Logik. Die überarbeiteten Beiträge zu einem hieraus erwachsenen Kolloquium zum Thema "Methodologie der Geschichtsschreibung einzelwissenschaftlicher Disziplinen" sind nun in einem von Volker Peckhaus und Christian Thiel herausgegebeben Band erschienen.

Wie die beiden in ihrem Vorwort deutlich machen, liegt der Schlüssel zu einer kontextuellen und nicht ausschließlich linearen Disziplinengeschichte in der Personalisierung. Im Gegensatz zur politischen Geschichtsschreibung beispielsweise ist die Wissenschaftsgeschichte in der Regel gut personalisierbar. Einzelne Forscher beschäftigen sich mit ganz bestimmten Teilgebieten, so dass der Einstieg über die Biographik einen fruchtbaren Ansatzpunk für eine Disziplingeschichtsschreibung bietet.

Der Themenauswahl des Bandes ist seine Herkunft aus der Logikgeschichtsschreibung deutlich anzumerken: mehr als die Hälfte der Artikel behandelt die Achse Mathematik - Logik - Philosophie. Neben methodologischen Untersuchungen werden lediglich der Kunstgeschichte und der Humangenetik eigene Aufsätze gewidmet.

So behandelt Hans Jahnke in seinem Beitrag über "Mathematik und Romantik" die Einflüsse der Mathematik auf die romantische Literatur und versucht gleichzeitig, "romantische" Strömungen in der damaligen mathematischen Forschung aufzuzeigen. Diese sieht er in einer Abwendung von Versuchen, die Mathematik mit Bezug auf die Anschauung zu begründen, so dass schließlich die Künstlichkeit und eigenständige schöpferische Natur der Mathematik in den Vordergrund tritt. Hier gibt es tatsächlich interessante Parallelen zum romantischen Geniebegriff, durch den Welten geschaffen werden sollen, die sich der empirischen Wahrnehmung entziehen.

Die Wichtigkeit, den nichtlinearen Charakter der Entwicklung einer Disziplin verständlich zu machen, betont Heinz Jürgen Hess in seinem Beitrag über "Kontext und Relevanz" am Beispiel der Editionstätigkeit an der Leibniz-Gesamtausgabe. Hier zeigt sich die Problematik in der Art und Weise in der Erläuterungen, Kommentare und Aufschlüsselungen im Index Schwerpunkte setzten, die dem originalen Textkorpus nicht entsprechen. Somit täuschen sie thematische Zusammenhänge vor, die nur aus unserem heutigen Verständnis existieren. Ein Beispiel: Es wurde bemängelt, dass in der Ausgabe des Leibnizschen Briefwechsels das Stichwort "Energie" nicht auftaucht. Dieser Begriff existierte jedoch zu dieser Zeit nicht. Ist es nun rechtzufertigen, dass wir im Nachhinein durch Verschlagwortung einen solchen Zusammenhang herstellen, indem wir die Leibnizschen Gedanken sozusagen nachträglich aktualisieren? Der Autor bestreitet dies entschieden. Ein wesentliches Problem ist natürlich, dass jede solche "Aktualisierung" ihre eigene Zeitbindung mit sich bringt, etwas was in der Erstellung einer definitiven kritischen Ausgabe möglichst zu vermeiden ist.

Der Problematik der innerdisziplinären Dynamik widmet sich Rainer Hohlfeld in seinem Aufsatz über den "Streit um die Federführung in der Humangenetik". Er beschreibt zwei gegensätzliche Trends, die innerhalb der Humangenetik durch verschiedene Forschergruppen vertreten werden: die medizinisch und die naturwissenschaftlich orientierte Richtung. Die erste hat die bloße restitutio ad integrum des Patienten im Sinn, während die zweite auch noch um eine "Nachbesserung", um eine qualitative Verbesserung des Vorhandenen bemüht ist. Die Spannung zwischen diesen beiden Positionen wird nicht zuletzt durch das Erscheinen biomedizinischer Konzerne verschärft, in denen "biologische Konstruktionslogik und marktwirtschftliches Kalkül" eine unselige Allianz eingehen.

Der Sammelband ist allen an der Methodik der Wissenschafts- und Disziplingeschichte Interessierten zu empfehlen. Der Schwerpunkt, der auf die Gebiete Logik und Mathematik gesetzt wird, schränkt den Wirkungskreis etwas ein. Gleichzeitig werden jedoch auch genügend allgemeine methodologische Fragen behandelt, um die Sammlung nicht auf eine reine Anthologie der Mathematikgeschichtsschreibung zu reduzieren.

Titelbild

Volker Peckhaus / Christian Thiel: Disziplinen im Kontext.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
244 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3770533828

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