Grundlagenforschung in der Flasche

Eine nicht ganz standfeste Aufsatzsammlung zum Thema "Sucht"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Dem Alkohol müsste man Tantiemen zahlen", behauptet Wilfried Schoeller in seinem Artikel "Das letzte Glas" ("du", 12/1994), "er ist der mächtigste Erzeuger von Literatur, der sich denken lässt", und er untermauert seine Behauptung sogleich mit einer Aufzählung einer ganzen Reihe von Flaschengeistern. Jean Paul, Edgar Allan Poe, Upton Sinclair und Ernest Hemingway sind der Trunksucht ebenso erlegen wie Scott Fitzgerald oder William Faulkner. E. T. A. Hoffmann becherte sich bekanntlich wacker in das Fantasiereich seiner nächtlichen Spukgestalten vor, und selbst Schillers Vorrat an Alkoholika war beachtlich. Was läge also näher, als einen geheimen Konnex zwischen hochprozentigem Destillat und hochwertiger Literatur zu unterstellen? Eine Umfrage unter deutschsprachigen Autoren in besagtem "du"-Heft mit dem Titel "Treibstoff Alkohol. Der Dichter und die Flasche" verweist hingegen auf eine gegenläufige Wirkung der geistigen Getränke: Fast alle der Befragten verneinten eine positve Einwirkung des Alkoholkonsums auf den kreativen Schreibprozess oder teilten gar mit, dass sich der Rausch außerordentlich störend auf ihre Arbeit auswirke.

Diese Janusköpfigkeit scheint charakteristisch für den Symptomkomplex Sucht. "Sucht", meinen viele, kommt von "suchen", trotzdem sagt diese falsche Etymologie nicht weniger über die Sache aus als ihre richtige Zurückführung auf "siech". Der vorliegende Sammelband, der auf einer Vortragsreihe der Universität Heidelberg basiert, will beide Pole suchtartigen Verhaltens beleuchten: Das psychologische Moment der Suche nach Befreiung, Kreativität und Erfüllung, sowie seinen Krankheitsaspekt. Das gelingt den Autoren jedoch nur in Einzelfällen, denn in den Aufsätzen - sie reichen von der Beschäftigung mit Zwangsstörungen, organologischen Aspekten der Alkoholkrankheit, "Sektenabhängigkeit", frauenspezifischer Suchtproblematik bis hin zur polizeilichen Drogenbekämpfung und Ecstasy - dominiert jene sattsam bekannte, einerseits medizinisch-therapeutische, andererseits obrigkeitsstaatlich-repressiv verengte Sichtweise auf die Droge. Der Vermeidungsimperativ übertönt jene Stimmen, die sich auf eine umfassendere Betrachtung dieses Phänomens einlassen.

Natürlich ist nicht zu leugnen, dass jede Form der Abhängigkeit, stoffgebunden oder nicht, gesundheitliche Beeinträchtigungen und zum Teil verheerende psychosoziale Folgeschäden nach sich zieht. Was aber sollen wir ohne das Zweite Gesicht des Gewohnheitstrinkers mit jener Passage aus dem Gilgamesch-Epos anfangen, die da lautet: "Er trank sieben Krüge Bier. Da wurde er entspannt und heiter, er wurde glücklich und sein Gesicht strahlte"? Präziser und auf unsere Fragestellung übertragen: Was wissen wir über die aus der Selbstzerstörung gespeiste künstlerische Produktivität? Manfred Faths Aufsatz "Drogen als Mittel künstlerischer Inspiration" bahnt zwar den Weg zu einer solchen Fragestellung, trotzdem fällt das Ergebnis seiner Bestandaufnahme buchstäblich ernüchternd aus. Bei Künstlern wie dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner und den Maler-Schriftstellern Henri Michaux und Jean Cocteau, so Faths Resümee, habe die Einnahme von Drogen zu keiner Erweiterung der künstlerichen Gestaltungsfähigkeit geführt. Eine Behauptung, an der offenbar auch das Münchener LSD- Experiment von 1972/73 nicht zu rütteln vermag: Die im Rausch entstandenen Arbeiten wichen "nur graduell" von den gewohnten Ausdrucksformen ab. Das scheint nicht unbedingt einsichtig, zumal der Autor den bildenden Künstlern damit eine unerklärliche Immunität bescheinigt, "ganz im Gegensatz zu Literatur" wohlgemerkt.

Diese nämlich steht zum Alkohol in inniger Beziehung, wie aus dem Beitrag "Kunsttrinker" hervorgeht. Hier werden wir Zeugen einer "Liason dangereuse zwischen Tremendum und Tremens, Musenkuss und Schluckreflex [...], ohne die das Museum der Meisterwerke um manches Exponat ärmer wäre". Der Verfasser Ulrich Horstmann ist durch zahlreiche Aphorismen, Gedichte und Prosaarbeiten, die von der Nährlösung des Alkohols durchtränkt sind, einschlägig vorbelastet. Die von ihm vorgestellten Autoren Algernon Charles Swinburne, James Thomson, Jack London und Malcolm Lowry schrieben und tranken ausnahmslos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, alle waren sie Amerikaner. Horstmann liegt es fern, die zerstörerischen Folgen des Alkohols und die Kosten zu beschönigen, die gleich zwei dieser vier Trunkenbolde bewältigen mussten, als da wären: Verwahrlosung, Selbstaufgabe, soziale Marginalisierung und schließlich Tod. Trotzdem beharrt er darauf, dass bei seinen "Kunsttrinkern" der Produktivitätspegel proportional zum Blutalkoholspiegel angestiegen sei. Jack London bezeichnet die alkoholinduzierte Form der Weltwahrnehmung in seiner 1913 veröffentlichten Lebensbeichte "John Barleycorn or Alcoholic Memoirs" als "white logic". "Als Gefühlspanzer und Spion, als Anästhetikum und Sehschlitz im schönen Schein der Lebenslügen", kommentiert Horstmann griffig, "lässt dieses Genussgift [...] alle Konkurrenten weit hinter sich".

Auf der Suche nach Gründen für den Alkoholismus, das muss auch Horstmann einräumen, gerät der Wissenschaftler nicht weniger ins Schwimmen als die in den Feuchtbiotopen des Flüssigen überdauernden Autoren. Exhibitionismus oder das kollektive Künstlerbild des poète maudit könnte man hier nennen, aber auch (wie wir mit Hilfe des Ursachenkatalogs aus Donald W. Goodwins Säufer-Kompendium "Alcohol an the Writer" leicht ergänzen können) die anfällige Arbeitsorganisation des Schriftstellers sowie das Einzelgänger-Dasein des Literaten, das er im Schreiben wie im Trinken gleichermaßen zu überwinden trachtet. Das wäre freilich mit Blick auf Amerikas Durst zeitgeschichtlich zu spezifizieren. Auch wenn Faths und Horstmanns Beiträge eher Erklärungsbedarf wecken als fertige Deutungsschablonen bereitstellen, so vermessen sie doch ein brachliegendes Forschungsfeld. Mit einer toxikologischen Definition der Sucht, das unterstreicht auch Horst-Jürgen Gerigks Aufsatz zu Anton Tschechov, wird es im Blick auf ein literaturwissenschaftliches Suchtkonzept nicht getan sein.

Titelbild

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.): Sucht. Mit Beiträgen von Manfred Fath u. a.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
170 Seiten, 8,70 EUR.
ISBN-10: 3825309029

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