Erfühlte Hörspuren und Sichtausschnitte

Nico Bleutges lyrische Erkundungen der menschlichen Wahrnehmung

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seitdem die Kunst der Moderne sie für sich entdeckte, avancierte die Wahrnehmung zu einem der zentralen Themen in künstlerischen wie wissenschaftlichen Diskursen gleichermaßen: Vorbei die Zeiten, als man gemeinhin glaubte, es gebe eine objektive Realität, die es mittels der Sinne lediglich aufzunehmen gelte - wurden doch Konzepte wie Objektivität, Realität und Subjekt mittlerweile längst nachhaltig diskreditiert.

Das Verhältnis von wahrgenommener Welt und wahrnehmendem Subjekt nimmt auch der Lyriker Nico Bleutge in den sechs Gedichtzyklen seines Debütbands "klare konturen" in den Blick: Bleutges Gedichte drehen sich um Natur- und Kulturlandschaften, um den menschlichen Körper und um Gemälde Edward Hoppers; doch vor allem drehen sie sich um eines: um die menschliche Wahrnehmung und deren Bedingungen. Dabei existiert Realität in Bleutges Gedichten nicht immer schon per se, sondern wird erst im Prozess des Sehens, Hörens und Fühlens erzeugt - in Form der eponymen "klaren konturen", die jedoch stets nur von kurzer Dauer sind. Wahrnehmung wird zum dauernden Wechselspiel zwischen der Konstruktion und dem Zerfall von Stabilität.

Erstere ist dabei das Resultat der höchst subjektiven Erzeugung einer Realitätsversion: Das visuelle Abtasten der Konturen einer Landschaft beispielsweise wird im Gedicht "fransige schneisen, das auge" als Auswahl- und Vereinfachungsprozess beschrieben ("der blick schleift die rundungen ab"), wohingegen an anderer Stelle das Betasten von Objekten zu deren nachhaltiger Veränderung führt: "was sie versteckt hielten / legten die finger vorsichtig frei, mehlige hülsen / und stiele, zerzupfte fasern, vom anfassen hart / geworden". Doch vermag auch das Wahrgenommene selbst die Wahrnehmung zu beeinflussen, durch die "wechselnde sicht" zu unterschiedlichen Tageszeiten etwa, oder durch "das geräusch der sich gabelnden // bäume, [das] das hören bald / in eine andere richtung [leitet]". Das, was gesehen, gehört und gefühlt wird, ist somit stets nur eine Annäherung an eine nie in toto wahrnehmbare Realität, eine Apperzeption, die nie nur das je Gegenwärtige wiedergibt, sondern dieses mit einer Vielzahl von Erinnerungsbildern kontaminiert und es zur "perspektive der übereinander gestapelten erinnerungen" werden lässt.

Wie viele Gegenwartslyriker zeigt auch Bleutge in seinen Gedichten eine besondere Vorliebe für Ränder, Grenzen und Bruchstellen, ebenso wie für das Meer, Möwen und Disteln; auch die momentan so populäre konsequente Kleinschreibung mutet eher schon wie ein lyrisches Klischee an, als dass sie wirklich noch ein Gefühl von der "Andersartigkeit" der Lyrik vermitteln könnte. Während es ferner müßig erscheint, darauf hinzuweisen, dass in einem Gedichtband nie alle Gedichte gleichermaßen zu überzeugen vermögen, so ist es weitaus weniger müßig, festzustellen, dass es Bleutge in den meisten der hier versammelten Gedichte gelingt, unprätentiös-präzise Lyrik zu verfassen, die gerade durch ihre ungewöhnliche Sichtweise auf Alltägliches dem Leser den Prozess der Wahrnehmung und des "Erfassens" von Wirklichkeit um so stärker ins Bewusstsein rückt. "klare konturen" ist ein Debütband, der neugierig auf mehr macht.


Titelbild

Nico Bleutge: klare konturen. gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
88 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3406550673

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