Leidenschaftliche Strategien

Der von Wiebke Ratzeburg herausgegebene Ausstellungsband "Aufruhr der Gefühle" informiert über die Aktualität der Darstellung von Emotionen in der zeitgenössischen Foto- und Videokunst

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bereicherte Aby Warburg die Kunsttheorie um den Begriff der "Pathosformel". Gemeint sind damit bildliche Darstellungsformen von tradierten Körpergesten, die einen hohen affektiven Gehalt vermitteln. Die Geschichte solcher codierten Repräsentationen von Emotionen lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Dass Pathosformeln aber auch heute noch eine beliebte Strategie sind, Leidenschaften beim Betrachter hervorzurufen, und zwar nicht nur in Hollywoodfilmen, lässt sich etwa an den zwischen Malerei und Fotografie oszillierenden Werken des tschechischen Fotokünstlers Jan Saudek zeigen. So greift "# 414 (Pietà) Finished June 14 1989 (1889)" auf die klassische Trauerpose Marias zurück, die den Leichnam ihres Sohnes auf den Schoß nimmt. Allerdings ist Saudeks Trauernde so nackt wie der offenbar schwerelos schwebende Leichnam in ihren Händen, hier wird also der religiöse Hintergrund von sexuellen Konnotationen überlagert.

Doch ist der Rekurs auf tradierte Pathosformeln nur eine unter vielen Strategien moderner Künstler, Emotionen zu präsentieren und beim Betrachter zu evozieren. Das belegt der Begleitband zu einer Ausstellung, die im Jahr 2004 im Braunschweiger Museum für Photographie stattfand. Am Beispiel von 30 international bekannten Künstlern, die mit den Medien Fotografie und Videokunst elementare Gefühle wie Liebe, Angst, Hass oder Zorn thematisieren, identifizieren die Veranstalter neben den Pathosformeln vor allem die Inszenierung, die Überwältigung, die Grimasse, die Ambivalenz, die Leidenschaftslosigkeit, die Nähe und das Stereotyp als erfolgversprechende ästhetische Strategien.

Als Meisterin der Inszenierung darf beispielsweise Cindy Sherman gelten, die in ihren Bildern in immer neue weibliche Identitäten schlüpft und sich als Projektionsfläche für Wunschvorstellungen oder Albtraumfantasien präsentiert. Auf Nähe, also die Verringerung zwischen Fotograf und Sujet, setzt dagegen Knut Klaßen in seiner Serie "L. P. 2000": Die Massenekstase Love Parade wird hier nur an- oder ausschnitthaft gezeigt, in Großaufnahmen von verschwitzten Rücken oder sich umschlingender Leiber. Mit seiner überzeugenden Auswahl belegt der von Wiebke Ratzeburg herausgegebene Band die unverminderte Aktualität der Darstellung von Emotionen gerade im Zeitalter ihrer zunehmenden Virtualisierung.


Titelbild

Wiebke Ratzeburg (Hg.): Aufruhr der Gefühle. Leidenschaften in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst.
Appelhans Verlag, Braunschweig 2004.
111 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3937664114

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