Die Sturmpantoffeln der Poesie

14 Dichter und die Frage "Wohin geht das Gedicht?"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel "Mein Gedicht ist mein Messer" versammelte vor vierzig Jahren Hans Bender poetologische Äußerungen von Dichtern. Solch offene Aggressivität und sezierende Schärfe findet man in dem Band "Wohin geht das Gedicht?" nicht. Geblieben ist allerdings der Hang vieler Dichter zu großen, schweren, emphatisch gebrauchten Worten. Da ist vom "inneren Schaudern" die Rede (Alberto Nessi), davon, den "Tod als seinen Schatten mitzudenken" (Albert Ostermaier), von "Konzentration", die an "Klaustrophobie" reichte, (Brigitte Oleschinski). Wer, wenn nicht der Dichter, sollte es auch wagen, den Mund voll zu nehmen, Pathos zu wagen und die Stimme zu erheben?

Der Herausgeber dieser dichterischen Selbsterkundungen ist Roman Bucheli, Literaturredakteur der "Neuen Zürcher Zeitung". Er lässt in dem Band internationale Vertreter der mittleren und älteren Lyriker-Generation zu Wort kommen. Die ganz Jungen fehlen, dazu vermisst man manche der großen Alten, doch die Sammlung ist auch so bunt und anregend.

Dabei wirkt die Frage "Wohin geht das Gedicht?" erst einmal kurios. Unwillkürlich fallen einem Antworten wie "in die Binsen" oder "zum Teufel" ein. Den Dichtern hingegen ist die Vorstellung des Gedichts als Wesen vertraut. Juri Andruchowytsch berichtet von seiner wilden, erfüllten Zeit, als er mit Lyrik als Zirkuskunststück durch die Ukraine tingelte: "Ich lebte mit ihr wie mit einer Geliebten." Die kann untreu werden, einen verlassen, auf ihr Eigenleben pochen, sich verweigern. Dabei gilt Lyrik als die persönlichste, die subjektivste aller Gattungen. "Immer wieder höre ich das," schreibt Ulrike Draesner, "und immer wieder ärgere ich mich darüber... . Denn wer glaubt, dass nur Subjektives sich im Gedicht ausdrücke, versteht nicht, dass außen und innen zusammenkommen müssen. Versteht nicht, und da schlägt mein Ärger in Traurigkeit um, dass er sich selbst von einem Gedicht anstoßen lassen kann."

Ulrike Draesner, Lars Gustafsson, Marcel Beyer und Lutz Seiler sind nicht die einzigen, die den Anstoß von außen hervorheben, die Bedeutung der Realien, ohne die lyrische Evidenz schwer möglich erscheint. Bucheli zitiert denn auch in seinem ausführlichen Nachwort Wallace Stevens' Diktum: "A poet's words are of things that do not exist without the words." Bei ihm wie bei den Dichtern erstaunt allerdings ein wenig die Emphase, mit der vornehmlich der Lyrik Möglichkeiten und Probleme zugeordnet werden, die für die Sprachkunst insgesamt gelten: Sprachzweifel, Verdoppelung der Schöpfung, das Besondere aus den Dingen hervorzulocken, sie zum Leuchten zu bringen. Als gälte das für Prousts, Nabokovs und noch Mayröckers Prosa nicht ähnlich.

Etwas anderes zeichnet die Poeten den Prosaisten gegenüber aus: Sie haben die Brücken zur Tradition nie abgebrochen, ja sie pflegen oft sogar ein lebendiges Gespräch mit ihren Vorläufern, beleben alte Formen neu. Les Murray betont zurecht, dass von einem Fortschritt in der Lyrik, wie ihn die Titelfrage suggeriere, nicht die Rede sein könne: "weder entwickelt sich Dichtung noch lässt sie sich voranbringen". Und Norbert Hummelt erdet sein lyrisches Tun durch persönliche Berührung mit den Dingen und durch sein Verhältnis zur Tradition: Für ihn sollten Gedichte zu den Quellen gehen. Lutz Seiler schildert denn auch in seinem wunderbaren Essay, wie ihm Vergangenheit in Lion Feuchtwangers "Villa Aurora" als Gedichtmaterial begegnet, aber erst nach etwa sieben Jahren aufschreibbar wird. Charles Simic ironisiert und beschwört die Verskunst zugleich: "Dichtung [...] bleibt immer zu Hause [...] selbst wenn sie auf stürmischen Meeren segelt, zieht die Poesie ihre Pantoffeln nicht aus." So ein liebevoller und ernster Witz findet sich glücklicherweise öfter in den Beiträgen, die vor allem dort überzeugen, wo sie Poetologie an den Entstehungsgeschichten einzelner Gedichte exemplifizieren.

Lyrik lässt sich heute, das strahlen alle Beiträge aus, nicht in die Pflicht nehmen, verweigert sich Engagementforderungen und Avantgardezwang, ohne auf Wirkung verzichten zu wollen. Sie vertraut auf eine enge Bindung an die Dinge, flirtet mit der Tradition und setzt ihre erstaunlichen Taschenspielertricks ein, um die "menschlichen Anklangsnerven" (Peter Rühmkorf) zu reizen. So meint Simic: "Was man hoffen kann für ein Gedicht: Es möge hinausgehen in die Welt und einen vollkommen Unbekannten davon überzeugen, dass genau dies geschieht, wovon es handelt."


Titelbild

Wohin geht das Gedicht?
Herausgegeben von Roman Bucheli.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
126 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3892449937

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