"Weh dem, der keine Heimat hat!"

Karen Duves zweite Geschichte um Thomas Müller erklärt jung und alt die Bedeutung von Heimat

Von Clara GörtzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clara Görtz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wo gehen wir denn hin?", fragte einmal Novalis, und gab sich selbst die Antwort: "Immer nach Haus!". Wo, so könnte man entgegnen, befindet sich denn dieses "nach Haus"? Darauf könnte man mit dem russischen Schriftsteller Andrej Sinjawski antworten: "Heimat ist kein geographischer Begriff. Man trägt sie in sich selbst." Diesem Ausspruch würde Karen Duve sicherlich nicht widersprechen. Denn in ihrem fabulösen Weihnachtsbüchlein "Thomas Müller und der Zirkusbär" widmet sie sich der Frage nach der Lokalisierbarkeit von Heimat und kommt zu dem Schluss, dass diese eben an keinen Ort gebunden sein muss.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen vermenschlichte Tiere, die für sich "persönlich" herausfinden, mit welchen Attributen sie den Begriff ihres Zuhauses besetzen.

Sandra Kaiser etwa, die Hauskatze der Familie Wortmann, ist eigentlich eine Wanderkatze. Das heißt, sie ist eine Nomadin, die keine richtige Heimat hat. Allerdings ist sie bei Familie Wortmann sesshaft geworden. Teddybär Thomas Müller hingegen weiß eigentlich schon lange, dass sich sein Zuhause bei Marc, dem Sohn der Wortmanns, befindet. Diese Ansicht wird an Weihnachten, dem harmonischen, friedvollen Fest der Familie, auf die Probe gestellt, denn Vater Wortmann schenkt seiner Frau, seinem Sohn Marc sowie dem Teddybären und der Katze Karten für den Zirkus. Dort lernt Thomas Müller den Fahrrad fahrenden Zirkusbären Momps kennen. Begeistert von dessen Kunststücken, steckt der Bär dem Artisten seine Visitenkarte zu - nicht ahnend, dass dies weit reichende Folgen für ihn haben wird. Denn wenige Tage darauf bricht Momps aus dem Zirkus aus und lädt Thomas Müller ein, mit ihm gemeinsam auf dem Rad nach Sibirien zu fahren, in die wahre Heimat der Bären. Und so lässt dieser seine Familie hinter sich und macht sich auf, um seinen angeblichen sibirischen Wurzeln nachzugehen. Schnell ist er allerdings desillusioniert: Einerseits sieht er seine Vorstellungen von einer freundschaftlichen Beziehung in Momps nicht bestätigt. Denn der Zirkusbär ist im Gegensatz zu seinem Freund Marc egoistisch, gewissenlos und noch dazu ein Besserwisser. Andererseits merkt der Teddybär schnell, dass er bei Wortmanns besser aufgehoben ist als auf dem Gepäckträger eines Fahrrades im Winter, erst recht in Sibirien. Denn bei den Wortmanns fühlt er sich warm, sauber und behütet. Trotzdem will er Momps nicht enttäuschen, und so fahren sie nach Hamburg, um einen kurzen Zwischenstopp bei Tante Gerda einzulegen, die aber eigentlich lieber "ein einsames und ruhiges Leben führen" möchte. Allerdings erkennt sie in Momps einen Bären, den sie früher im Wildpark fütterte. Als jener ihr außerdem erzählt, er sei im Zirkus geschlagen worden, ist es um sie geschehen. Sie verspricht, ihn bei sich wohnen zu lassen und für ihn zu sorgen. Angesichts dieser Aussichten lässt Momps von seinen Reiseplänen ab, und auch Thomas Müller darf endlich wieder zurück zu seiner Familie Wortmann.

Die zahlreichen, liebevollen, bunten und detailfreundlichen Illustrationen von Petra Kolitsch lassen zunächst die Vermutung aufkommen, es handle sich bei der Erzählung um ein Kinderbuch - ähnliche Schlüsse wurden schon anlässlich ihrer ersten Weihnachtsgeschichte "Weihnachten mit Thomas Müller" gezogen. Die 1961 in Hamburg geborene Autorin besteht allerdings darauf, die Geschichten um "Thomas Müller" seien für die gesamte Familie geschrieben. In einer Zeit, in der viele Menschen, ob jung oder alt, ihren Wohnort wechseln oder daraus vertrieben werden, sich fragen, wo sie eigentlich zu Hause sind, wo ihre Heimat ist.

Der Zirkusbär bricht aus,weil er auf der Suche nach einem Zuhause ist. Zunächst geht er davon aus, dass dieses in Sibirien sein muss, da er dort seine Wurzeln vermutet. Als er Tante Gerda kennenlernt, weiß er plötzlich, dass er ein ganz bestimmtes Gefühl mit dem Begriff "Heimat" verbindet: er möchte von Tante Gerda umsorgt werden und Geborgenheit spüren.

Thomas Müller hingegen hat seine Heimat schon gefunden. Ihm wird aber erneut vor Augen geführt, womit er - wenn auch unbewusst - diesen Begriff konnotiert, und zwar in dem Moment, in dem er sein Zuhause verlässt, um sich in seine vermeintlich wahre Heimat zu begeben. Genau an diesem Punkt zeigt sich: Heimat ist eben kein lokalisierbarer Ort oder ein konkretes Land. Sowohl Thomas Müller als auch Momps verbinden damit ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Denn genau dieses abstrakte Gefühl war es ja, was die Katze Sandra Kaiser dazu bewog, von einer Wanderkatze zum sesshaften Haustier zu werden.

Karen Duves zweite Geschichte über Thomas Müller vermag es, dies allen Altersstufen zu vermitteln. Denn einerseits nehmen die verspielten Illustrationen und die einfache, verständliche Sprache junge Adressaten für sich ein. Dies aber ist auch der Grund dafür, weshalb die älteren Adressaten und Duve-Kenner vielleicht enttäuscht das Buch zur Seite legen könnten. Denn die glanzvolle, abgeklärte und metaphorische Sprache aus dem "Regenroman" etwa sucht man hier vergeblich.

Andererseits schafft die von Karen Duve schon bekannte Ironie das Aufbrechen des Naiv-Fabulösen ins Wirkliche. Wenn Tante Gerda etwa ihren Gästen mit folgender Begründung zunächst den Erdbeersaft verweigert: "Nicht, [...] der ist aus dem Reformhaus und schrecklich teuer", oder wenn Herr Wortmann die Katze Sandra Kaiser als "miesen, fiesen Immobilienhai" bezeichnet, weil sie im Monopoly gewinnt. Genau diese Textstellten sind es, die dem erwachsenen Leser ein Schmunzeln auf die Lippen zaubern.

So kann man das Büchlein vielleicht als Appell an Eltern sehen, sich um ihre Kinder zu sorgen und sich mit ihnen zu befassen, ihnen Geborgenheit und Wärme und somit ein richtiges Zuhause zu geben. Nietzsche würde es wie folgt umschreiben: "Weh dem, der keine Heimat hat!"


Titelbild

Karen Duve: Thomas Müller und der Zirkusbär.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
80 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3821807784

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