Die Rezeptionsgeschichte eines provokanten Poeten

Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke erarbeiten eine dreibändige Dokumentation über "Heine und die Nachwelt"

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Heine, ein Poet, der genussvoll provozierte und politisierte, polarisierte über die Jahrhunderte. Der Streit um die Bewertung und literaturwissenschaftliche Einordnung des Lyrikers ist in vielerlei Hinsicht lehrreich, macht er doch auch offenkundig, wie sehr auch die Wertungskriterien zeitgebunden sind. Er zeigt zudem auf, dass öfters Subjektivität und Emotionalität die Einschätzung steuern.

Anlässlich von Heines 150. Todestag publizierte Matthias Matussek im SPIEGEL Nr. 7/2006 unter der Überschrift "Pistolenknall und Harfenklang" einen Artikel mit der Behauptung, "im neuen vereinten Deutschland" sei "der geniale Dichter und Journalist Heinrich Heine endlich angekommen". Eine äußerst fragwürdige These. Immerhin hatte Rudolf Augstein noch 1997 behauptet: "Es ist erstaunlich, dass Heinrich Heine nun zu seinem 200. Geburtstag immer noch nicht das Festmahl bekommt, das er verdiente. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute ihn nicht nur nicht kennen, sondern auch nicht einzuordnen wissen. Das ist bei Heine auch besonders schwierig, er ist zu zwiespältig." (SPIEGEL Nr. 49, 1997) Und Matussek stellt ja selbst fest, dass Heine "den Rechten [...] zu links, den Linken zu rechts" war: "Den Nationalisten galt er als Vaterlandsverräter, den Intellektuellen als trivial."

Und das soll heute anders sein? Die groß angelegte Untersuchung erfolgt nun: Der Erich Schmidt Verlag hat drei Bände zum Thema "Heinrich Heine und die Nachwelt" angekündigt, und der erste ist bereits erschienen. Die Herausgeber Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke begründen ihr Projekt damit, "dass trotz des großen Aufschwungs der Heine-Forschung in den letzten Jahrzehnten [...] es erstaunlicherweise keine Dokumentation und keine Gesamtdarstellung dieser Wirkungsgeschichte" gibt. Es ist in der Tat verwunderlich, dass die wichtigsten Dokumente des Jahrhunderte währenden Streits um die Einschätzung des Poeten Heine bisher noch nicht systematisch zusammengestellt und präsentiert worden sind. Wie das Heine-Handbuch von Gerhard Höhn kann die dreibändige Dokumentation der Geschichte von Heines "Wirkung in den deutschsprachigen Ländern" daher zu einem unverzichtbaren Standardwerk der Heine-Forschung avancieren.

Freilich findet man bei der immensen Sekundärliteratur zu Heine auch bisher schon partielle Dokumentationen und Studien zu seiner Rezeptionsgeschichte; Goltschnigg und Steinecke führen in ihrer ausführlichen Bibliografie zahlreiche Titel auf. Auf den erfrischend frech geschriebenen Forschungsbericht von Jost Hermand über das "Streitobjekt Heine", 1975 im Frankfurter Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht, der sich mit der Heine-Rezeption in den Jahren von 1945 bis 1975 beschäftigt, soll in diesem Zusammenhang verwiesen werden, weil er demonstriert, wie lebendig und anregend literaturwissenschaftliche Studien sein können. Man darf gespannt sein, wie die Herausgeber von "Heine und die Nachwelt" seine Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert sehen und welche Dokumente sie für die Bände 2 und 3 auswählen. Der erste Band umfasst "Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare" aus den Jahren 1856 bis 1906.

Bisher war es zuweilen recht mühselig, sich die verstreut veröffentlichten Dokumente zu Heines Wirkungsgeschichte zu beschaffen. Mit dem Projekt "Heine und die Nachwelt" werden diese Texte nun zugänglich gemacht, was die Forschung erleichtern und ihr zudem auch essentielle Impulse geben wird. Beispielsweise wird Gerhard Höhns Aussage im "Heine-Handbuch", wonach "Heines Wirkungsgeschichte in Deutschland [...] immer wieder seine Stellung als Außenseiter bestätigt" habe, überprüft werden müssen.

Absicht der Herausgeber ist es, "eine Dokumentation von Wirkungszeugnissen" zu publizieren, "die ein umfassendes, vielseitiges, differenziertes Bild dieser Wirkung, der öffentlichen Debatten wie der literarischen Auseinandersetzungen zu bieten versucht. Für die Konzentration auf die deutschsprachigen Länder spricht nicht nur das konstatierte Defizit gegenüber den Forschungen zur Rezeption im Ausland, sondern vor allem die besondere Ausrichtung der deutschen Wirkungszeugnisse: Es geht bei der Beschäftigung mit Heine weltweit in erster Linie - und fast ausschließlich - um den Dichter und seine Bedeutung, in Deutschland und Österreich hingegeben von Beginn an immer auch und nicht selten primär um allgemeine literarische, kultur- und gesellschaftspolitische Fragen. Selbst literarische Auseinandersetzungen wie Realismus gegen Romantik oder wahre Dichtung gegen bloßes Feuilleton werden nicht selten bereits zu Lebzeiten politisiert, Heines Schreibweise mit seinem Verhältnis zum Französischen und zum Jüdischen erklärt und identifiziert.

So werden Nationalismus und Antisemitismus zu Kernzonen der Heinekritik, die Rolle dieser Denkweisen zeigt sich im Umgang mit Heine, und dieser Umgang selbst wird zum Symptom von deren Umfang und Grad. Diesen Prozess über 150 Jahre deutscher Geschichte zu zeigen, nicht nur in herausragenden Quellenzeugnissen, sondern auch in der alltäglichen Beschäftigung und Auseinandersetzung, ist das Hauptziel dieser Dokumentation. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Heine im engeren Sinn, sondern auf den kritischen und journalistischen - vor allem: öffentlichkeitswirksamen - Formen sowie dem Umgang der Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit der Person und der "Schreibart", die mit seinem Namen untrennbar verbunden ist. Daher ist die Spannweite der Textsorten groß: Essays, Gedichte, Versepen, Erzählungen, Anekdoten, literarhistorische und philosophische Schriften, Aufrufe, Pamphlete." Diese abwechslungsreiche Auswahl macht den Band zu einem spannenden Lesevergnügen.

Mit der ersten Worten des (nach Auffassung der Herausgeber von Ignaz Kuranda geschriebenen) Nekrologs, drei Tage nach Heines Tod in der Wiener "Ost-Deutschen Post" veröffentlicht, beginnt das Vorwort: "Heinrich Heine, der langjährige Gegenstand blinder Verehrung und einer eben so blinden Anfeindung, ist nicht mehr. In der That! Nur wenige Dichter oder Schriftsteller haben während ihres Lebens so enthusiastische Bewunderer und so erbitterte Feinde gehabt. Während die Einen ihn als den größten lebenden Dichter, als den geistreichsten Schriftsteller priesen, fanden die Andern ihn leichtfertig, unsittlich, weihelos als Dichter, ohne Treu und Glauben, Würde und Ernst als Schriftsteller." Tatsächlich bestätigt der dokumentierte Streit um Heine diese Aussage nachhaltig.

Im 19. Jahrhundert standen vor allem zwei Aspekte im Mittelpunkt der heftig geführten Auseinandersetzung: Der Streit um geplante Denkmäler für Heine in Düsseldorf und Mainz und um seine jüdische Abstammung. "Zwei Leitfragen durchziehen alle Phasen dieses Zeitraums: Welchen Platz soll Heine in einer deutschen Nationalliteraturgeschichte einnehmen, und: was bedeutet er für die jeweilige Gegenwart - der Liedersänger, Nachfolger Goethes, Freiheitsdichter, Kosmopolit, Sprachartist, der Preußenhasser, Franzosenknecht, Jude, Frivole, Verhunzer der deutschen Sprache?"

Ihren Aufsatz, mit dem sie den "Streit um Heine 1856-1906" kommentieren, haben Goltschnigg und Steinecke unter die pointiert kontroversen Aussagen gestellt: "Der unsterbliche Liederdichter" - "ein Pfahl in unserm Fleische." Sie zeigen anhand der ausgewählten Texte auf, wie vielfältig und zahlreich der Poet Anlässe zu heftigen Kontroversen gegeben hat. Es ist freilich nicht verwunderlich, dass Heine wegen seiner antipreußischen Invektiven gerade in einer Zeit, in der das Preußentum gewaltig an Macht und Einfluss gewann, von preußisch-nationalistischer Seite als der "entlarvte Söldling Frankreichs" (Heinrich von Treitschke) geschmäht und abgelehnt wurde. Immerhin konstatieren die Autoren, dass der Prozess von Heines Abwertung bei der Kritik gleichzeitig "verlief vor dem Hintergrund einer wachsenden Popularität des Dichters beim Lesepublikum, und das in allen Gesellschaftsschichten, insbesondere im Bürgertum, aber auch in der Aristokratie und, ansatzweise, sogar im ,Proletariat'."

Auch was die Einschätzung von Heines Werken nach stilistischen und literarischen Gesichtspunkten betrifft, wiederholen Gegner und Bewunderer des Poeten stets dieselben Argumente: Während die einen seine Ironie und seinen scharfen Witz bewundern, prangern die anderen seinen verletzenden Spott und seine Frivolität an: "Frecher hat noch nie ein Dichter / Seinen Dichterdienst gekündigt, / An Geschmack, an Sitt' und Anstand / Keiner sich wie du versündigt.", reimte Hoffmann von Fallersleben 1872. "Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben", schrieb Friedrich Nietzsche 1888.

Amüsant und reizvoll sind die zahlreichen Versuche, Nachdichtungen in Heines Manier zu verfassen; die Herausgeber verweisen auf Ferdinand Avenarius, der 1888 von "Heineln" als einem bekannten Phänomen spricht: "Es ist nachweisbar bei vielen dritt- und viertrangigen Gelegenheitsdichterinnen und -dichtern, Beiträgern zu Anthologien und Florilegien, bei seinerzeit berühmten, mittlerweile fast aus dem Blickfeld der Literaturgeschichte verschwundenen Dichtern wie Emanuel Geibel, Viktor von Scheffel, Friedrich Theodor Vischer und Friedrich von Bodenstedt, aber auch bei durchaus anerkannten und bedeutenden Lyrikern. Bei diesen sind jedoch fast ausschließlich die jeweils frühen Gedichte mehr oder weniger stark von Heine-Tönen geprägt. Die wichtigsten Beispiele sind wohl Gottfried Keller, Theodor Storm und Theodor Fontane." Da die Dokumentation die Texte präsentiert, kann der Leser sich selbst ein Urteil bilden und überprüfen, ob die Kritik der Literaturwissenschaftler zutreffend ist oder revidiert werden müsste. Dies gilt vor allem auch für die Verse der Kaiserin Elisabeth von Österreich, die ja bekanntlich eine glühende Heine-Verehrerin war und daher auch Gedichte geschrieben hat, in denen sie seinen Stil nachahmte.

Als die Literaturwissenschaftler im neu entstandenen Wilhelminischen Kaiserreich die Klassik zur zentralen Epoche erklärten und eine Kanondiskussion führen, wird Heine marginalisiert: Sein "Abweichen von der klassischen Linie" habe ihn "in eine Sackgasse geführt." Vielleicht war das sogar gut und hat mit zu seiner dauerhaften Lebendigkeit beigetragen. Jedenfalls muss man befürchten, dass ein "kanonisierter Heine" seine Sprengkraft verliert. In ihrer Rezension des in dritter Auflage erschienenen Heine-Handbuchs hat Alexandra Pontzen konstatiert, dem Dichter sei "der Aufstieg zum Klassiker nicht unbedingt bekommen, selbst wenn das Paradox ,anti-klassischer Klassiker' seiner Inkommensurabilität Rechnung tragen soll." (siehe literaturkritik.de Nr. 10/2004). Außerdem kann man ja bekanntlich jedem revolutionären Autor seine Sprengkraft nehmen, indem man ihn über die Gründung von nach ihm benannten Institutionen richtunggebend vereinnahmt; aber dieser Prozess setzt bei Heine erst spät im 20. Jahrhundert ein und kann daher erst im geplanten dritten Band der Dokumentation thematisiert werden.

Es ist lehrreich, die alten Streitschriften zu lesen, denn durch den Filter der historischen Distanz wird der Blick geschärft. Man erkennt, wie manche Autoren Heine benutzen beziehungsweise missbrauchen, um ihre Weltanschauung zu untermauern. Der Journalist und Schriftsteller Carl Busse lobt in seinem Aufsatz zu Heines hundertstem Geburtstag die "sittliche Stärke" des deutschen Volkes, das gern "schlechte Verse, aber nie ein sittliches Manco" verzeihe: "Und was man auf der einen Seite bedauern kann, dass es nämlich einem seiner größten Dichter den Kranz noch immer vorenthält, das kann einen auf der andern Seite erfreuen, denn es bestärkt den Glauben an die großen sittlichen Kräfte, die in der deutschen Nation noch leben."

Man kann auch beobachten, wie Heines Freunde stets nach ihm rufen wie nach einem Messias: Wäre er noch am Leben, dann würde er in die Politik eingreifen und alle Missstände beseitigen: "O Heinrich Heine, o kehrtest du noch / Zurück in unseren Tagen, / Wie wuchtig würdest du heute doch / Mit deiner Geissel schlagen. // Wie würdest du züchtigen bis aufs Blut / Des Tages falsche Götter / Und schüren des Volkes Freiheitsgluth, / Du grosser, unsterblicher Spötter!", reimt der engagierte Sozialdemokrat Max Kegel "zu Heinrich Heines Hundertjährigem Geburtstag", und in einem Artikel hält er das Bekenntnis fest: "In Deutschland selbst hat Heinrich Heine ein noch schöneres unvergänglicheres Denkmal - im Herzen des Proletariats, das liebend der Helden der Freiheit gedenkt."

Geradezu rührend sind Alfred Kerrs Versuche, Heines Sünden zu erklären und dem "Lebensdichter" die Absolution zu erteilen: "Er war niemals Jude im Sinne eines Zweckmenschen. Er war ein Kind. [...] Weltenhumor und Himmelsgelächter entfesselt ein glorios Schamloser."

Mit dem Sketch "Die Enthüllung des Heine-Denkmals" von Alexander Moszkowski haben die Herausgeber eine Satire ausgegraben, die auch heute noch zum Lachen reizt. Sigmund Freud ist mit einem Auszug aus seiner Publikation "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" vertreten, in dem er Heines Wortschöpfung "famillionär" interpretiert. Abstoßend wirken die unappetitlichen antisemitischen Invektiven beispielsweise von Wolfgang Menzel, der gegen den "durch Lüderlichkeit entnervten Judenjüngling mit spezifischem Moschus- und Knoblauchgeruch" hetzte, vor allem aber die Auslassungen von Eugen Dühring in dem mit "Die grüne Sau" überschriebenen Schmäh-Artikel aus dem Jahr 1893. Die im ersten Band von "Heine und die Nachwelt" enthaltenen 133 Texte lassen den Streit um Heine, "um die Rolle des Juden in einer deutschen Nationalliteratur, um seine Denkmalswürdigkeit, seine Rolle als Artist oder Verderber der deutschen Sprache" lebendig werden. Zahlreiche Abbildungen und Karikaturen tragen zur Veranschaulichung bei. Wenn man die Namen der Textverfasser durchsieht, hat man den Eindruck, dass es im 19. Jahrhundert keine Persönlichkeit aus dem Geistesleben gibt, die sich nicht über Heine geäußert hat.

Auch wenn sich vieles wiederholt, wird der Band nie langweilig. Allerdings kann es sein, dass der heutige Leser manchmal amüsiert oder angewidert den Kopf schüttelt über die Verbissenheit, mit der die Streithähne seinerzeit aufeinander eingehackt haben. Auf jeden Fall liefert die Lektüre Einblicke in die Literatur- und Ideologiegeschichte, ermöglicht Kenntnisse und Erkenntnisse und bietet quasi nebenbei erschreckliche und vergnügliche Unterhaltung. Außerdem macht der Band neugierig, Heines Werke (wieder) zu lesen, nicht nur, um die aufgestellten Thesen zu überprüfen. Was kann man von einer Dokumentation mehr verlangen?

Nach Auffassung der Herausgeber hat im Heine-Gedenkjahr 1906 der damals zwanzigjährige Wiener Student (und spätere Journalist und Schriftsteller) Richard A. Bermann die klarste Bilanz gezogen: "Wenn man erklärt, dass (Heine) ein Schweinekerl war, wird man nicht gesteinigt. Ganz im Gegenteil. Wenn man sagt, dass er ein elender, wertloser Sudler war, ist man eine Stütze von Thron und Altar. Aber merkwürdig - man vergisst den Sudler nicht. Er bleibt populärer als andere gottbegnadete Dichter, deren Jubiläen man mit Paradeaufzügen ehrt. Wie oft hat man ihn in den letzten fünfzig Jahren totgeschlagen! Und er lebt doch noch. Nicht einmal seine Verehrer haben ihn umbringen können. Und das ist mehr, als man von den Verehrern anderer Dichter sagen könnte. Man spuckt ihn an, wischt sich den Mund und pfeift seine Lorelei. Man lobt ihn und liest ihn doch. Sonderbar, höchst sonderbar!"


Titelbild

Dietmar Goltschnigg / Hartmut Steinecke (Hg.): Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006.
710 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-10: 3503079890

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