Die Aufweichung eines Monolithen

Rolf Selbmanns "Deutsche Klassik" in der Reihe "Kultur Kompakt"

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Lehrbuch zur Literaturgeschichte Spaß machen kann, zeigt eindrucksvoll das in der Reihe "KulturKompakt" bei Schöningh als UTB-Taschenbuch im Jahr 2005 erschienene Studienbuch "Deutsche Klassik". Der Autor Rolf Selbmann ist als Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg und als Gymnasiallehrer in München tätig. Seit vielen Jahren schreibt er unermüdlich Aufsätze und Bücher. Seine Themen sind, neben der deutschen Klassik, der Deutsche Bildungsroman, Gottfried Keller und die deutsche Lyrik.

Die "Deutsche Klassik" bedeutet einen wichtigen Schritt im Hinblick auf die Aufweichung eines Monolithen. Die Klassik beginnt wieder zu erwachen. Sie wird lebendig durch ein gut recherchiertes Buch, das in Aufmachung und in Bebilderung nichts zu wünschen übrig lässt. Es verfängt sich nicht in altbekannten Floskeln, es strickt nicht weiter an einem Mythos, der "unsere" Klassiker ins Übermenschliche hebt. Hier sehen wir Menschen, die menschlich denken und handeln, der geizige Goethe, der selbstherrliche Schiller! Aber, und das ist entscheidend, es gelingt Selbmann in eindringlicher Weise, die Umstände und Situationen zu schildern, die die Klassiker Goethe und Schiller erst möglich machten. Eine Aufklärungsliteratur, die einen neuen Geist in Deutschland schuf, einen Klopstock, der die Lyrik revolutionierte, Gottsched, der die bekannteste Regelpoetik des 18. Jahrhunderts schuf, die Lyriker Gleim und Geßner, die in der Anakreontik Maßstäbe setzten, der Übersetzer Voß, der mit seinen Übertragungen der "Ilias" und der "Odysee" den klassischen Gedanken beförderte. Nicht zu vergessen, die Schriften des Kunsthistorikers Winckelmann, ohne dessen "Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauer-Kunst" (1755) die klassische Periode am Ende des 18. Jahrhunderts kaum möglich gewesen wäre.

Die Klassik erscheint nicht als singuläres Ereignis. Sie wird als genuine Epoche auch in Frage gestellt. Lässt sich mit Fug und Recht behaupten, die Deutschen hätten am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Klassik gehabt? Was bedeutet überhaupt "Klassik"? Selbmann macht drei unterschiedliche Klassikbegriffe ausfindig: "normativ gebraucht bedeutet er so viel wie mustergültig, historisch verwendet bezeichnet er den Rückgriff auf die Antike, als Epochenbegriff soll er einen Zeitraum eingrenzen." Sowohl der normative Gebrauch, als auch der Epochenbegriff der Klassik sind, nicht nur nach Selbmann, äußerst fragwürdig. Das Normative der Klassik geht auf die Klassiker selbst zurück. Welche Geltung hat diese Stilisierung des eigenen Schaffens noch für die heutige Generation von Lesern und Germanisten? Bezeichnet "Klassik" nicht lediglich eine Phase, in der sich "romantische" Autoren klassischer Themen bedienen, während die frühen Romantiker selbst zu diesem Zeitpunkt noch einer, man denke vor allem an Friedrich Schlegel, "Gräkomanie" verfallen waren? Gilt Goethe nicht den frühen Romantikern als "der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden", dem nachzueifern bedeutet, romantisch zu dichten?

Selbmann zeigt diese Problematik auf. "So lebt die Aufklärung", schreibt er, "von ihren Anfängen am Beginn des 18. Jahrhunderts ungebrochen bis ins 19. Jahrhundert fort; die Autoren der Empfindsamkeit schreiben weit über diese Jahrhundertwende hinaus; die Romantik setzt ihre ersten Markierungen längst vor dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts." Die germanistische Literaturwissenschaft hat deshalb gern mit Umschreibungen gearbeitet. So spricht Hermann August Korff vom "Geist der Goethezeit", Carl Otto Conrady von "Deutscher Literatur zur Zeit der Klassik" und Gerhard Schulz von "Deutscher Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution". Dennoch lässt sich ein Bezugsrahmen schaffen, der von Schillers "Don Carlos" (1784) und Goethes "Italienischer Reise" (1786) bis zu "Faust I." (1808) beziehungsweise den "Wahlverwandtschaften" (1809) reicht. Die engere Kernzeit der Deutschen Klassik reichte dann von 1794 bis zum Tod Friedrich Schillers im Jahr 1805. Einen Gipfelpunkt bildet das so genannte Balladenjahr 1797, in dem klassische Stoffe den Hauptinhalt ausmachen.

Zur jahrzehntelangen Plausibilität und Erfolgsgeschichte der Epochenbezeichnung "Klassik" trug vor allem, so streicht Selbmann heraus, das positivistisch geprägte Phasenmodell der Literaturgeschichte Wilhelm Scherers (1841-1886) bei. Nach diesem Modell kennt die deutsche Literatur drei Perioden der Klassik, die germanische Heldendichtung um 600, die "Staufische Klassik" um 1200 und eben die "Deutsche Klassik" um 1800.

Die Leistung des Studienbuches "Deutsche Klassik" besteht nicht so sehr in Kommentaren, Werkaufzählungen oder der Erforschung von Hintergründen. Selbmann zeichnet vielmehr auf eindrucksvolle Weise das Bild einer Epoche mit ihren Randerscheinungen, mit ihren Unverstandenen und den zahlreichen zu-kurz-Gekommenen. Einer dieser Unbekannten im Hintergrund ist Karl Ludwig von Knebel (1744-1834). Als Begleiter der Söhne der Großherzogin Anna Amalia, Constantin und Carl August, arrangierte er das erste Treffen zwischen Carl August, dem späteren Großherzog in Sachsen-Weimar, und Johann Wolfgang Goethe. Vor allem diesem glücklichen Zufall hat Goethe seinen kometenhaften Aufstieg und seine nahezu uneingeschränkte Position am Weimarer Hof zu verdanken. Als Freund und Förderer des jungen Goethe wird Johann Heinrich Merck (1741-1791) genannt. Karl August Böttiger (1760-1835) ist eine weitere bedeutende Randfigur des klassischen Weimar. Als Instanz in Weimar und heimlicher Herausgeber des "Neuen Deutschen Merkur" und des "Journals des Luxus und der Moden" ist es seinen erst 1838 in Auszügen bekannt gewordenen Aufzeichnungen zu danken, dass auch der Weimarer Klatsch überliefert wurde.

Eigens gewürdigt werden Wilhelm von Humboldt, Friedrich Immanuel Niethammer, Johann Heinrich Meyer und die Sekretäre Goethes Christian Georg Carl Vogel, Friedrich Ludwig Riemer und Johann August Friedrich John. Selbmann spart nicht mit interessanten Details, denn "Goethes Sekretäre waren immer schon mehr als bloße 'Schreiber'". Zu Riemer bemerkt er: "Als Altphilologe und Theologe wurde er zunächst geschätzter Gesprächspartner, sogar Goethes Trauzeuge und Berater in metrischen, rhetorischen und stilistischen Fragen. Für Goethe verfasste er Bearbeitungen, Überarbeitungen und eigene Beiträge bis hin zur namentlich nicht gezeichneten Zusammenarbeit."

Dieses Ghostwriterverhältnis zwischen Goethe und seinen Sekretären wird im Falle Eckermanns literarisch legitimiert. Dessen Leistung wird von Selbmann gleichfalls gebührend gewürdigt: "Seinen, getreuen Eckart', so Goethe am 14. Dezember 1830 an Zelter, benutzte er als ständigen Mitarbeiter, als Gesprächspartner, als Ansporner zum Abschluss unvollendeter Werke wie der Wanderjahre oder Faust II. Eckermann diente in selbstloser Aufopferung. ... Bezahlt wurde Eckermann nicht; Goethe verschaffte ihm zwar ein Ehrendoktorat, jedoch keine besoldete Stelle."

Wie auch im Falle Kleists oder Hölderlins, dem Schiller riet, doch kürzere Gedichte zu machen, fällt damit kein besonders positives Licht auf die Menschen Goethe und Schiller. Ein eigener Abschnitt wird den Frauen um Goethe gewidmet. Angefangen von Susanna von Klettenberg, die den jungen Goethe pflegte, über Charlotte von Stein, die Schauspielerin Corona Schröter, Louise von Göchhausen bis hin zur Malerin Angelika Kauffmann erfährt der Leser interessante Details.

Zum Kreis der Klassiker im weiten Sinne zählt Selbmann Johann Peter Hebel (1760-1826), Karl Philipp Moritz (1757-1793), Christoph Martin Wieland (1733-1813) und Johann Gottfried Herder (1744-1803). Gerade im Hinblick auf die lange Schaffensperiode Wielands vor Beginn der eigentlichen Klassik und der sehr unsystematischen Arbeitsweise Herders, die eben nur am Rande auch klassische Themen umfasste, ist diese Einbeziehung einigermaßen problematisch. Im Grunde gehören sowohl Wieland als auch Herder wohl in eine umfassendere Epoche der Aufklärung. Noch problematischer, aber sicherlich nicht ganz unberechtigt, ist die Einbeziehung Heinrich von Kleists und Jean Pauls in das Umfeld der Klassik. Die philosophische Fichte-Rezeption Hölderlins verweist diesen gleichfalls eher in das Lager der Romantiker. Allein dadurch wird die ganze Problematik einer genuinen Epochenbezeichnung "Klassik" deutlich. Vielleicht wird die zukünftige germanistische Literaturgeschichtsschreibung die deutsche Klassik ohnehin als Strömung innerhalb einer gesamteuropäischen Romantik begreifen.

Selbmanns "Deutsche Klassik" ist didaktisch sehr gut aufgebaut. Die einzelnen Abschnitte und Kapitel sind durch Absätze und Zwischenüberschriften deutlich voneinander getrennt. Interessante Zitate leiten die Kapitel ein. Am Ende jedes Kapitels stehen Fragen zum Text. Ein am Schluss des Buches angefügter Lösungsschlüssel ermöglicht die Selbstüberprüfung. Hinweise auf einschlägige Literatur zur Vertiefung des Gelesenen vervollständigen das Konzept eines Studienbuches. Etwas negativ fallen einige orthographische, grammatische und manche faktische Fehler auf, insbesondere dann wenn Jahreszahlen falsch präsentiert werden, was mindestens dreimal geschieht (nämlich auf den Seiten 78, 79 und 86). Auch in diesem Punkt regt das Buch also zur Mitarbeit an. Dennoch ist Rolf Selbmann mit der "Deutsche[n] Klassik" in der Reihe "KulturKompakt" ein informatives und lesenswertes Buch gelungen, das fraglos eine Bereicherung eines jeden germanistischen Grundstudiums darstellen kann und sich insbesondere als Quelle für Seminararbeiten und für die Prüfungsvorbereitung eignet.


Titelbild

Rolf Selbmann: Deutsche Klassik.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2005.
260 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3825225933

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