Sphärenklänge

Susanne Koglers und Andreas Dorschels vielschichtiger Sammelband zu musikalischen Bezügen in Ingeborg Bachmanns Œuvre

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer Anekdote zufolge fühlte sich Immanuel Kant in seinen denkerischen Anstrengungen wiederholt durch die lebhaften Gesänge von Inhaftierten eines nahegelegenen Gefängnisses gestört. Dazu mag beigetragen haben, dass die Vokalmusik der Arretierten zwar sicherlich lautstark, womöglich jedoch wenig harmonisch gewesen sein dürfte. Doch war Kant der Tonkunst insgesamt nicht sonderlich zugetan. Als Kritiker der ästhetischen Urteilskraft erklärte er zumindest, die Musik nehme zweifellos den "untersten [...] Platz" ein, wenn man "den Wert der schönen Künste nach der Kultur" schätze. Ungeachtet dieses harschen Urteils sprach er der Klangkunst immerhin nicht jeglichen Nutzen ab, sondern gestand ihr zu, dass sie ähnlich wie das Lachen "die Eingeweide und das Zwerchfell" erschüttere und somit das "Lebensgeschäft im Körper" befördere, was wiederum dem "Gefühl der Gesundheit" zuträglich sei. Ein Lob, welches die Vermutung nahelegen könnte, dass dem Königsberger Weltweisen das dröhnende Genre der Marschmusik noch am liebsten gewesen ist.

Wie dem auch gewesen sein mag, eine weit höhere Wertschätzung wurde der Musik jedenfalls von Arthur Schopenhauer entgegengebracht. Ihm zufolge erklingt die "wunderbare Kunst der Töne" "ganz abgesondert" von allen anderen schönen Künsten. Sind diese doch nichts weiter als "Abbild[er]" der "(platonischen) Ideen", die ihrerseits aber immerhin "adäquate Objectivation[en]" des Kantischen Dinges an sich sind (das Schopenhauer bekanntlich als Willen enttarnt zu haben erklärt). Die Musik hingegen ist ein unmittelbares "Abbild des Willens selbst". Sie ist Schopenhauer also nicht nur die erste unter den schönen Künsten, sondern bewegt sich in einer für die anderen unerreichbaren Sphäre. In dieser singt sie nicht "nur vom Schatten", sondern "vom Wesen" der Dinge.

Kant versus Schopenhauer - unterschiedlicher können philosophie-ästhetische Betrachtungen zur Musik und deren Bewertung kaum ausfallen. Die beiden Philosophen kommen zwar auch in einem Aufsatz von Karl Ivan Solibakke vor, der sich der Bedeutung widmet, welche der "[i]dealistische[n] Musikphilosophie" für die "Literarisierung der Musik in ausgewählten Werken Ingeborg Bachmanns" zukommt - doch treten der Alleszermalmer und der Willensverneiner hier nicht so sehr als musikästhetische Antipoden auf, sondern vielmehr als Philosophen, die vom Autor zu Beginn und am Ende des Deutschen Idealismus verortet werden.

Nachzulesen sind Solibakkes Ausführungen zu Kant, Schopenhauer, der Philosophie des Deutschen Idealismus und zur Literatur Ingeborg Bachmanns in einem von Susanne Kogler und Andreas Dorschel unter dem Titel "Die Saite des Schweigens" herausgegebenen Sammelband, dessen interdisziplinäre Beiträge den vielschichtigen und -fältigen musikalischen Bezügen in dem "eigentümlich musikaffin[en]" Œuvre der österreichischen Autorin nachgehen.

Die Beitragenden nehmen nicht nur Bachmanns literarisches und lyrisches Werk in den Blick, sondern auch ihre Libretti und die Hörspiele. Barbara Agnese etwa nähert sich dem "Unsagbare[n] bei Bachmann", Mitherausgeberin Kogler wendet sich der "Dialektik von Leben und Tod" in Bachmanns Werken zu. Karen R. Achenberger geht den Spuren nach, die Beethoven, Wagner und Schönberg in dem Roman "Malina" hinterlassen haben. Die Texte von Christian Bielefeldt und Monika Müller-Nael widmen sich Bachmanns gemeinsamer Arbeit mit dem Komponisten Hans Werner Henze. Martin Zenke verbindet Literatur, Musik und Malerei, indem er "Oralität und Skriptualität" von Bachmanns Lyrik in den Kompositionen von Giacomo Manzhoni, Luigi Nomo und Adrian Hölzky sowie in den Gemälden Anselm Kiefers herausarbeitet. Auch Elisabeth Oy-Marra befasst sich mit dem deutschen Maler. Ihr Interesse gilt "Memoria und Evidenzia" in dessen Bachmann gewidmeten Werken. Julia Hinterberger hat sich Adriana Hölszkys Musiktheaterwerk "Der gute Gott von Manhattan" angehört und -geschaut.

Sind die meisten Aufsätze durchaus erhellend, so fällt derjenige von Stefanie Golisch doch etwas aus dem Rahmen. Bevor sie ihre eigenen Thesen entwickelt, hält sie in ihrem "Musik als Metapher" betitelten Beitrag der Bachmann-Rezeption zunächst einmal eine "weihevolle Distanz zu einer Legende" vor, "an deren Zauber man nicht kratzen möchte". Daran möchte sie nicht teilhaben. Entsprechend kritisch wendet sie sich denn auch der Autorin selbst zu. Bachmann habe "[f]ür sich selbst und für ihre Bewunderer [...] bis zum Schluss die Rolle der exzentrischen Dichterin" gespielt, meint Golisch. Indem sich Bachmann "nach außen hin bewusst inszeniert" habe, habe sie versucht, "ihr Ich gegen ihre inneren Anfechtungen zusammenzuhalten". So habe sie sich "permanent" neu "erfunden" und werde "die Erfindung ihrer eigenen Person mal mehr, mal weniger geglaubt haben". Zuletzt habe "das Konstrukt" aber nicht mehr gehalten, oder zumindest "nur noch mit Hilfe von Tabletten, Zigaretten, Alkohol". Die klinische Ferndiagnose der Literaturwissenschaftlerin ist eindeutig: Die Literatin hat an "Wahnvorstellungen" gelitten. Bachmanns psychische Erkrankung, so Golisch weiter, habe sich auch in ihren Werken niedergeschlagen. Während die "Wahnvorstellungen" der Dichterin Golisch zufolge "in der Zentralperspektive des 'Todesartenzyklus' zum Ausdruck kommen", lasse sich "Bachmanns Fixierung auf die Welt als Mordschauplatz, auf die unausweichliche Zerstörung der Frau durch den Mann [...] am ehesten als Zwangsneurose [...] klassifizieren". Überhaupt handele es sich bei dem "von der feministischen Literaturkritik der siebziger Jahre emphatisch als politisches Manifest begrüßt[en]" Zyklus um "das Psychogramm eines Zerfalls".

Nicht minder scharf kritisiert Golisch feministische Lesarten von Bachmanns frühem Prosawerk "Undine geht", denen der "Allerweltsname" Hans zum "Symbol des männlichen Feindbildes schlechthin" geworden sei. "Eine von ideologischem Vorurteil unverblendete Lektüre" - damit meint Golisch die eigene - gelange hingegen zu dem "differenzierten Schluss", dass sich Bachmann mit dem Text "keineswegs" von der "Utopie des Paares" verabschiede - "im Gegenteil".

In einer 1997 veröffentlichten Einführung zu Bachmann hatte Golisch den Text allerdings selbst noch, wenn auch nicht eben feministisch, so doch ganz anders gelesen. In ihm, so monierte sie damals, deuteten sich "leider bereits die fragwürdigsten Klischees" der späteren sogenannten 'Frauenliteratur' an: "Die hypostasierte uneingeschränkte Emotionalität der Frau, die diesen Text sowohl gedanklich als auch formalästhetisch vollständig beherrscht, erweist sich als unzureichend bei dem Versuch, die Beziehung zwischen den Geschlechtern und deren zukünftige Entwicklungsperspektive auf nuancierte Art und Weise zu erfassen."

Unbelehrt von aller auch in der Germanistik längst virulenter Genderforschung fuchtelt Golisch im Weiteren mit der Annahme einer "typisch weiblichen 'Kunstpraxis'" herum, "die sich im Unterschied zu männlich geprägten Mustern der Spaltung in Teilbereiche oder Sektoren verweigert und unbeirrt auf Deckungsgleichheit zielt", und erklärt mit einer bedenklichen Neigung zu unterschwelligen Geschlechterklischees und -essentialismen, Schriftstellerinnen besäßen "[f]ür die Diskrepanzen und Widersprüche von Leben und Werk - des eigenen und des fremden - [...] zumeist ein ausgeprägteres Empfinden als ihre männlichen Kollegen". Diesem geschlechterspezifischen Empfinden und (Schreib-)Verhalten gemäß habe Bachmann "ihr Leben als Beglaubigung ihres Schreibens - und umgekehrt" begriffen: "Kongruenz und Kohärenz" beider habe die Literatin für "notwendig" gehalten, "um Leben und Kunst wechselseitig Tiefe und Authentizität zu verleihen". Dass dies Bachmanns Literatur- und Selbstverständnis treffend beschreibt, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Implizit tat dies zuletzt Herbert Uerlings in einer erhellenden Untersuchung mit dem Titel "Ich bin von niedriger Rasse". (vgl. die Rezension des Buches in literaturkritik.de 1/2007) Jedenfalls hält Golisch wenig von einem Kunstverständnis und KünstlerInnenselbstverständis, wie sie es Bachmann - und über die Annahme jener "typisch weiblichen 'Kunstpraxis'" implizit all ihren Geschlechtsgenossinnen - unterstellt. So bemerkte sie bereits 1997, dass die "eigene Betroffenheit [...] für Künstler nur selten eine angemessene Perspektive bereit[stellt]". Vielmehr sei "menschliche und ästhetische Distanz [...] die notwendige Voraussetzung einer gelingenden Vermittlung zwischen Autor und Leser."

Ach ja, das im Titel ausgewiesene Thema des Aufsatzes wird auch noch behandelt, wenngleich nur äußerst randständig. Musik, "die scheinbar mühelos überwindet, worum die Sprache sich fast immer vergeblich bemüht", so Golisch, sei das "Paradigma der angestrebten Entgrenzung" einer "bewegliche[n], freie[n] Sprache, die zugleich die Wirklichkeit abbildet und die in ihr angelegten Möglichkeiten nach allen Seiten hin offen hält".


Titelbild

Susanne Kogler / Andreas Dorschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik.
Edition Steinbauer, Wien 2006.
320 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3902494123

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