Eine Schwäche für Gedichte

In "SEHEN heißt ändern" versammelt Jürgen Brôcan 30 amerikanische Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag das Wort vom "Geheimtipp" auch meist nur als reichlich überstrapazierte Worthülse erscheinen, so gibt es doch kaum einen Begriff, der das Münchner Lyrik Kabinett besser charakterisiert. Es ist bemerkenswert, was diese Stiftung leistet: Sie veranstaltet jährlich rund 30 Lesungen deutsch- und fremdsprachiger Lyrik, eine Autorenwerkstatt, unterhält eine exquisite Lyrik-Bibliothek und hat sich des literarischen Erbes Rudolf Borchardts angenommen. Aus einer bereits im Jahr 2002 gehaltenen Lesung von Gedichten Marianne Moores, Elizabeth Bishops und Denise Levertovs ging nun der bibliophil gestaltete Band "SEHEN heißt ändern" hervor, in dem der Lyriker und Übersetzter Jürgen Brôcan 30 amerikanische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung präsentiert.

Neben Lyrikerinnen, die mittlerweile auch in Deutschland keine Unbekannten mehr sind, so etwa Amy Clampitt, Louise Glück und Jorie Graham, nahm Brôcan auch hierzulande weniger bekannte Autorinnen wie Kay Ryan, Mona Van Duyn und Marylin Nelson in seine Sammlung auf. Dass dabei der eine oder die andere auf das Fehlen wohlbekannter Namen hinweisen wird, ist bei einem solchen Projekt nicht verwunderlich und lässt sich schlechterdings wohl auch kaum vermeiden - handelt es sich doch um eine Anthologie, und nicht um eine Enzyklopädie. Neben der eigentlich obligatorischen, obgleich mittlerweile schon überreichlich anthologisierten Sylvia Plath fallen insbesondere das Fehlen bedeutender Modernistinnen, wie H.D., Mina Loy und Gertrude Stein, aber auch die Nichtaufnahme von native americans und asiatisch-amerikanischen Lyrikerinnen auf. Elizabeth Bishops Abwesenheit wiederum erklärt sich aus ihrer testamentarischen Verfügung, dass ihre Gedichte niemals in Anthologien aufgenommen werden sollen, die ausschließlich Lyrik von Frauen enthalten. Dabei ist Brôcans Band keine Sammlung "feministischer" Gedichte im eigentlichen Sinne; das Auswahlkriterium war weder die Weltanschauung der Verfasserinnen noch ihre lyrische Auseinandersetzung mit "spezifisch weiblichen" Themen, sondern einzig ihr Geschlecht: "daß [die vorliegende Anthologie] auf die Dichtung von Frauen fokussiert ist, hat keine ideologischen Gründe, außer dem einen: auf die sträfliche Vernachlässigung eines enormen Fundus guter Texte aufmerksam zu machen."

Zu diesen "guten Texten" zählt Jürgen Brôcan (in der Tat herausragende) Gedichte wie Marianne Moores "Feed Me, Also, River God" ("Nähre auch mich, Fluß Gott"), Muriel Rukeysers "Suicide Blues" ("Selbstmord-Blues") oder auch Adrienne Richs "I Dream I'm the Death of Orpheus" ("Ich träum daß ich Orpheus' Tod bin"). Dass sich über die Übersetzungen (Brôcan selbst spricht von "Übertragungen") trefflich streiten ließe, liegt in der Natur der Sache; doch mag man auch nicht mit jedem Wort oder jeder Bedeutungsnuance übereinstimmen, so ermöglicht die Zweisprachigkeit der Ausgabe dem geneigten Leser jederzeit den direkten (und gegebenenfalls korrektiven) Blick auf den Originaltext. Ansonsten kann man dem Herausgeber und Übersetzer zu seinem Enthusiasmus und seinem Durchhaltevermögen nur gratulieren: Keine offizielle Institution, so bemerkt Brôcan nicht ohne Bitterkeit im Nachwort, habe ihn finanziell unterstützt - schlechte Zeiten für Lyrik eben, zumal für fremdsprachige.

Darüber hinaus gäbe es am Nachwort, das sich ebenso wie die Übertragungen den Auswüchsen der neuen Orthografie wohltuend widersetzt, sicherlich Einiges zu bemängeln: Obgleich er seine Sammlung dezidiert als nicht-"feministisch" deklariert, diskutiert Brôcan recht ausführlich die emanzipatorischen Anstrengungen amerikanischer Lyrikerinnen, zitiert insbesondere jede Dichterinnen als zentral, die keinen Eingang in die Anthologie gefunden haben und lässt darüber hinaus die genaue Bedeutung der eponymen Feststellung "Sehen heiße Ändern" weitgehend im Dunkeln. Auch mag man sich fragen, ob die alphabetische Anordnung der aufgenommenen Lyrikerinnen tatsächlich das optimale Aufbauprinzip einer Anthologie ist, die doch auch eine literarhistorische Entwicklung nachzeichnen soll. Doch angesichts der bewundernswerten Leistung Brôcans wirken all diese Einwände ungebührend erbsenzählerisch: "SEHEN heißt ändern" ist ein ebenso ansehnliches wie ansprechendes Buch, dessen Lektüre nicht nur Freunden amerikanischer Lyrik ausdrücklich anempfohlen sei. Da es allerdings nur in einer Auflage von 500 Exemplaren gedruckt wurde, ist es ratsam, mit dem Kauf nicht allzu lange zu warten.


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Jürgen Brocan (Hg.): Sehen heißt ändern. Dreißig amerikanischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.
Lyrik Kabinett, München 2006.
354 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3980715086

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