Die Geschichte der Schriftkultur als Evolutionsgeschichte

Peter Stein dementiert die großen Erzählungen der Medienhistoriker

Von Jost SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jost Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Genre der Schreib- und Lesegeschichte war in den letzten Jahrzehnten - von wenigen Ausnahmen abgesehen - von den Repräsentanten katastrophischer Geschichtsmodelle geprägt. Ob man mit Havelock die Entstehung der Alphabetschrift, mit McLuhan die Gutenberg'sche Erfindung der Typografie oder mit Kittler die Digitalisierung der Zeichensysteme zu einer Zäsur erklärte: Stets dominierte die Vorstellung, dass radikale, revolutionäre Einschnitte in der Medienentwicklung zu nicht minder radikalen Veränderungen des Denkens und Sprechens, der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, des Welt- und Menschenbildes, kurz: aller menschlichen Verhältnisse geführt hätten.

Diesen geschichtsmetaphysischen Konstruktionen tritt der Lüneburger Emeritus Peter Stein mit einem profunden Überblickswerk zur Geschichte des Schreibens und des Lesens entgegen, in dem er den gegenwärtigen Wissensstand zur Entwicklung der Schriftkultur in Deutschland auf prägnante Weise zusammenfasst. Behandelt werden in seinem chronologisch strukturierten, gut lesbaren Werk die historische Entwicklung der Schriftsysteme, der Schriftträger, der Schriftarten, der Schreibkonventionen, der Drucktechniken, der Schreibgeräte, der Lektürepraktiken, der Alphabetisierung, der Lesedidaktik und vieler anderer, verwandter Phänomene, die von direkter oder indirekter Bedeutung für die Entwicklung der Schriftkultur sind und waren.

Stein beginnt seine Darstellung in der Ur- und Frühgeschichte und wählt zunächst eine globale, auch exotische Kulturen berücksichtigende Untersuchungsperspektive. Nach und nach schränkt er seine Beobachtungen dann auf den europäischen und schließlich auf den deutschsprachigen Raum ein, was methodologisch vielleicht nicht ganz konsequent ist, den Lektüreinteressen der meisten seiner Leser jedoch entsprechen dürfte.

An zahlreichen Stellen seines Buches führt er - insgesamt in überzeugender Weise - den Nachweis, dass die vielbeschworenen Medienrevolutionen und -umbrüche in Wirklichkeit sehr langfristige Prozesse waren, die sich über viele Jahrhunderte hinzogen und die nur ganz allmählich bis in alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten vordrangen. Als Beispiel hierfür diene nur das von Stein beschriebene Kuriosum, dass 1487 die 400 gedruckten (!) Exemplare eines Freisinger Messbuches von fünf Mönchen je einzeln anhand der Druckvorlage auf Fehler durchgesehen wurden. Dass die Druckmaschine vollkommen identische Exemplare eines Textes produziert, konnten diese Mönche, die mental noch von der Schriftkultur des Manuskriptzeitalters geprägt blieben, einfach nicht glauben.

Was den Übergang vom Schriftsystem zum Unicode angeht, zeigt sich Stein folgerichtig eher gelassen: Es sind keine singulären technischen Innovationen, die sich für die großen Umbrüche in der Kulturgeschichte verantwortlich zeichnen, sondern allmähliche Transformationen komplexer Gesellschaftssysteme, die nur innerhalb langer Zeiträume zu bewerkstelligen sind.

Insgesamt hat Peter Stein kein durch spektakuläre Geschichtskonstruktionen oder durch alarmierende Zukunftsvisionen Aufsehen erregendes Thesenpapier, sondern ein faktenreiches, solide recherchiertes Nachschlagewerk vorgelegt, das als vollgültige Parallelunternehmung zu Standardwerken wie der Buchhandelsgeschichte von Reinhard Wittmann oder der Lesergeschichte von Erich Schön seinen Platz in der modernen Kulturgeschichtsschreibung behaupten wird.


Titelbild

Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens.
Primus Verlag, Lünebürg 2006.
349 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3896785648

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