Episoden-Puzzle zum Abtauchen

Ein Telefongespräch über "Weiße Eichen", den neuen Shortcut-Roman von Stephan Valentin

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich verstehe. Das gleiche wie letztes Mal. Kurz abtauchen, in die fremde Haut schlüpfen, etwas Wildes erleben... Und das alles, ohne den Fuß vor die Tür zu setzen."

"Natürlich habe ich etwas für Sie. Kommt aber erst im März raus."

"Nein, nichts Langes. Im Grunde dauert der Spaß nur ein paar Stunden. Man liest es in einem Atemzug durch. Aber wie hat Ihnen das letzte gefallen, wie hieß es doch... "Der Ameisenfeind"? Das wäre nämlich der gleiche Autor."

"Genau, ist vor sechs Jahren erschienen, im Pfefferkorn Verlag von Stephan Valentin. Sein Debütroman, soll jetzt verfilmt werden. Die Sprache hat Ihnen gefallen?"

"Ja. Verzeihung. Aber wir kommen doch gar nicht vom Thema ab. Auch der neue Roman Valentins, "Weiße Eichen", ist sprachlich sehr interessant. Und er ist gerade mal 141 Seiten lang. Leider."

"Sie meinen, wegen des Titels? Nein, nein, überhaupt keine Natur. Im Gegensatz, es wimmelt darin von Menschen. Jungen und alten, verliebten, betrogenen und verlassenen. Insgesamt vierzehn unterschiedliche Figuren, ihre Geschichten in fünf Momentaufnahmen gefasst."

"Sie wollen es konkreter haben? Also gut. Philipé wird gerade aus dem Gefängnis entlassen und freut sich auf das Wiedersehen mit seiner Freundin. Jacqueline trifft sich mit ihrem verheirateten Liebhaber Jürgen in einem Hotelzimmer und träumt von einer Dauerbindung. Die verbitterte Ex-Aristokratin Gerda lernt ihre zukünftige Schwiegerenkelin kennen. Livia erfährt von ihrem Arzt, dass sie eine Geschlechtskrankheit hat und Jeanne und Mona... Aber ich möchte wirklich nicht zu viel..."

"Also... Inhaltlich eher durchschnittlich? Sehen Sie, das ist sozusagen nur der Rahmen. Interessant bei einem Shortcut-Roman ist..."

"Haben Sie noch nie gehört? Stellen Sie sich einen Episodenfilm vor, bei dem die Fortsetzung jeder Szene durch eine andere hinausgezögert wird. Es gibt keine durchgehend nacherzählte Handlung, sondern nur kurze Ausschnitte daraus, wobei der Autor mit den Figuren ständig die Erzählperspektive wechselt."

"Nein, es verwirrt keinesfalls. Dadurch, dass die einzelnen Personen miteinander in Kontakt treten, bilden die Abschnitte ein Ganzes. Das Tolle dabei ist, dass Sie als Leser den Figuren immer einen Schritt voraus sind. Sie erkennen in dem alten Mann am Straßenrand Johann, während Jacqueline nur einen verwirrten Mann im Pyjama sieht."

"Meistens in Dialogen. Beschreibungen sind sehr knapp. Doch dort wo es sie gibt, sind sie erschreckend direkt. Dazwischen fallen lakonische Gedanken der Figuren. Alles sehr authentisch und durch vorenthaltene Details geheimnisvoll."

"Tut mir leid, am Telefon ist es eben ziemlich schwer zu erklären. Die attraktive Jacqueline entpuppt sich als ein einsamer Transvestit, der von Menschen verspottet, gar verprügelt wird. Die zwei Frauen Jeanne und Mona, die sich über einen Mann unterhalten, als wäre er der neue Freund einer von ihnen, sind selber ein Paar, und suchen einen geeigneten Samenspender. Eine ganze Milieu-Studie, Sie verstehen. Gerda spielt vor der Portugiesin Theresa die große Nationalistin, obwohl sie in ihrer Jugend als Jüdin nur knapp der NS-Verfolgung entkam. Doch wenn man hinter der resignierten Livia einen Liebhaber vermutet, wird man bitter enttäuscht. Es ist schon fantastisch, wie Valentin mit den Erwartungen der Leser spielen kann."

"Wieso unwirklich? Im Gegenteil. Die Figuren, obwohl knapp skizziert, überzeugen durch ihre Vorgeschichten. Sie sind dem alten Erinnerungsfoto, dem Liebesbrief, sogar von einem Drink abzulesen, dessen Name an den früher besuchten Urlaubsort erinnert."

"Genau, es ist wie puzzeln. Auf jeden Fall bekommt man am Ende ein vollständiges Bild."

"Nein. Kein Happyend. Nur eine Episode wird beendet, leider tragisch. Und noch dazu ausgerechnet der stillen Livia."

"Warum? Ich denke, wegen ihrer Tragik. Weil sie keine so schillernde Person ist wie Jacqueline oder die verblasste Gerda... Aber genauer wollte ich gar nicht darauf eingehen."

"Natürlich. Gerne, und auf Wiederhören."


Titelbild

Stephan Valentin: Weiße Eichen. Roman.
Pfefferkorn Verlag, Heidelberg 2007.
141 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783980729857

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