Stanzel, Genette & Co.

Monika Fluderniks "Einführung in die Erzähltheorie"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Generationen von Philologen sind im Zuge ihres Studiums an einer deutschsprachigen Universität durch Franz K. Stanzels narratologische Schule gegangen. Seine dreiteilige Erzähltypologie gehört hierzulande fraglos zum Basiswissen ausgebildeter LiteraturwissenschaftlerInnen; eine flächendeckende Rezeption von Gérard Genettes binärem Modell scheint freilich schon weniger wahrscheinlich.

Doch selbst wer sich mit den Theorien der beiden Protagonisten der Erzählforschung vertraut glaubt, sollte Vorsicht bei der Navigation durch die erzählte Welt walten lassen. Zu vielfältig und komplex ist nämlich jene Disziplin geworden, die darauf abzielt, das Verständnis narrativer Prozesse und Zusammenhänge zu erhöhen. Es gilt also wie so oft in der Wissenschaft, dass zunehmende Kenntnis nicht unbedingt größere Klarheit schafft. Wenn sich die Autorin Monika Fludernik mit dieser Einführung insbesondere an Erstsemestrige wendet, dann ist ihr dieser bewusst reduzierte Fokus aus pädagogischer Sicht zwar hoch anzurechnen, er verfehlt allerdings sein Zielpublikum, das sich angesichts einer ausufernden Terminologie und konzeptuellen Dichte wohl schon nach dem Lesen der ersten Seiten geschlagen geben wird. Aus dem Blickwinkel der Didaktik ist folglich davon abzuraten, ein derartig umfangreiches Feld zumal StudienanfängerInnen im Crash-Kurs-Verfahren vermitteln zu wollen. Stanzel oder Genette genügen für Einsteiger vollends. Erschwerend auf die Lektüre dürfte sich ferner der obligate Jargon auswirken, der gerade literaturwissenschaftliche Novizen vor den Kopf stößt. Begriffe wie "Enunziator", "gnomisches Präsens" oder "epistemologisch" erfreuen naturgemäß Fachleute, sie gehören aber keinesfalls zum passiven Vokabular oben erwähnter Zielgruppe. Ob ein weiteres Zurückdrängen der Fachsprache hier Abhilfe schaffen könnte, bleibt allerdings fraglich.

Ungeachtet dieses Einwands ist die geschickte und überaus umsichtige Annäherung an das weite Feld der Narrativik insgesamt zu loben, wobei stets das unprätentiöse Bemühen um Verständlichkeit an erster Stelle steht. Neue Termini werden in der Regel erklärt, die englischen und französischen Pendants angegeben und mit Beispielen ergänzt. Schlüsselwörter am Seitenrand als Orientierungshilfen und Diagramme als optische Verstärker grundlegender Typologien unterstreichen gleichfalls den Lehrbuchcharakter dieser Publikation. Grundbegriffe werden außerdem mehrmals expliziert, sodass der hierbei erzielte mnemotechnische Effekt nicht zu unterschätzen ist.

Inhaltlich bietet der hier vorgestellte Band eine Fülle von Einblicken in die verschiedensten Teilaspekte der Narratologie. Sogar Ausführungen zu Stil und Sprache sowie Exkurse in die Bereiche Film, Ballett oder Drama kommen in dieser "Einführung in die Erzähltheorie" nicht zu kurz. Als bestechend erweist sich in diesem Zusammenhang der komparatistische Ansatz der Autorin, der dazu beiträgt, dass sich LiteraturwissenschaftlerInnen verschiedener Studienrichtungen rasch in diesem Band heimisch fühlen.

Wer sich in das Buch vertieft, staunt immer wieder, wie viel Inhalt Fludernik auf knapp zweihundert Seiten virtuos ausbreitet. So ist etwa auch dem Themenkomplex "Realismus, Illusionismus und Metafiktion" ein ganzes Kapitel gewidmet. Grundprobleme realistischen Erzählens konstrastieren hierbei elegant mit ihrer illusionsstörenden Antithese, die sich an Namen wie Fielding oder Diderot festmachen lässt. Und abermals stellt man bescheiden fest, dass man sich terminologisch nicht immer auf dem letzten Stand befindet - oder wären Sie in der Lage, "Metanarration" und "Metafiktion" zu unterscheiden?

In einem weiteren, "Gedanken, Gefühle und das Unbewusste" überschriebenen Abschnitt rekurriert die Autorin auf psychoanalytische Methoden, um das Innenleben der Figuren zu durchleuchten. In diesem Punkt zeigt sich auch, dass psychische Störungen des Erzählers durchaus an die Grenzen narratologischer Analysen führen können. Eine Überleitung zur Fantastik und zu postmodernen Erzählformen ergibt sich an dieser Stelle wie von selbst und ermuntert den Rezipienten zu eigenständigem Weiterdenken und -lesen.

Einem überaus gedrängten theoretischen Teil folgen ausführlich kommentierte Interpretationsbeispiele, wobei vor allem Norbert Gstreins Roman "Englische Jahre" als Du-Erzählung die ungebrochene innovative Kraft zeitgenössischer Prosa demonstriert. Doch damit nicht genug! In den "Ratschläge[n] für heranwachsende NarratologInnen" werden häufige Fehler in Seminararbeiten diskutiert und nützliche Hinweise auf relevante Monografien, Fachzeitschriften sowie Homepages geboten. Abgerundet wird der Band mit einem umfassenden Glossar (eine Definition von Para-, Epi- und Peritext wäre wünschenswert gewesen) und einer Bibliografie.

Alles in allem erweist sich diese "Einführung in die Erzähltheorie" als ideales Nachschlagewerk und könnte sogar bei der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen nutzbringend eingesetzt werden, denn die Fülle des gebotenen Materials werden realiter nur Fachleute wirklich zu schätzen wissen.


Titelbild

Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
191 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3534163303

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