Der Hype ums Hirn

Zur Kulturgeschichte wissenschaftlicher Objekte

Von Margarete VöhringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Margarete Vöhringer und Yvonne WübbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Wübben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum scheint der Zenit der so genannten Dekade des Gehirns überschritten, das öffentliche Interesse langsam abzuebben und sich sogar ein gewisser Überdruss an Hirnbildern breit zu machen, wird die Langeweile selbst zum Gegenstand des kognitiven Neuroimagings. Unlängst berichtete die "Süddeutsche Zeitung" (19.1.2007) über eine Forschergruppe an der Harvard Universität, die das Gehirn im Zustand der Langeweile untersuchte, den Ort flüchtiger Gedanken aufspürte und Tagträumereien verortete. Gut gemacht. Jetzt wissen wir zumindest, wohin unsere Gedanken flüchten, wenn es auf den kognitiven Hauptschauplätzen - etwa denen der Hirnforschung - mal wieder zu langweilig wird.

"Dem Geist bei der Arbeit zuschauen", sich selbst einen Spiegel vorhalten, darin scheint die unglaubliche Faszinationskraft der Hirnforschung zu bestehen. Das vermerkt jedenfalls der Züricher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seiner 2006 erschienenen Aufsatzsammlung zur Geschichte der Hirnforschung. Die Faszination hänge, so Hagner, mit zwei Besonderheiten der gegenwärtigen Hirnforschung zusammen: Zum einen mit dem "großen Versprechen, [...] Phänomene wie Bewusstsein, Emotionen, Gedanken oder Vorstellungen zum Gegenstand" naturwissenschaftlicher Untersuchung zu machen. Zum anderen mit der so genannten "proleptischen Struktur" der Hirnforschung, also damit, dass Neurowissenschaftler immer mehr versprechen, als sie überhaupt einlösen können und so zumindest nicht von neuen Forschungsergebnissen, auch nicht von eigenen, überholt werden. Was aber meint Hirnforschung in diesem Sinn eigentlich? Institutionell gibt es das Abstraktum, über das man sich in Zeitungen verständigt, freilich nicht. Allenfalls setzt es sich aus verschiedenen Subbereichen zusammen, in denen kombinierte Verfahren eingesetzt und Fragestellungen aus Forschungstraditionen (Lokalisations-, Rezeptor- und Transmitterforschung) beziehungsweise Fächerlogiken (Psychiatrie, Geriatrie etc.) bezogen werden. Unterdessen hat sich selbst der Leser populärwissenschaftlicher Abhandlungen eingestehen müssen, dass Hirnbilder nicht mit Hirnforschung gleichzusetzen sind. Wo Hirnforschung institutionell gefördert wird, ist von großen Erwartungen oder der endgültigen Aufschlüsselung des Denkens und Fühlens nur selten die Rede - eher von unscheinbaren Gegenständen wie purinergen Schmerzrezeptoren. Ebenso selten findet sich dort brauchbares Material für die hohen Themen anthropologischer Selbstverständigung.

Wieso aber hält sich der Hype um die Hirnforschung nun mehr als zehn Jahre? Und setzen ihm kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Studien etwas entgegen, indem sie erklären, wo die Strahlkraft der kognitiven Neurowissenschaft herrührt? Wie verhält sich die Kulturgeschichte der Hirnforschung zum gegenwärtigen Anspruch der Neurowissenschaften?

Es braucht nicht viel, um festzustellen, dass zahlreiche der heute diskutierten Trends so neu nicht sind, wie Hirnforscher uns gern glauben machen. Wie der Körper des Menschen denkt und fühlt, ist jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert Gegenstand der Anthropologie.

Und eben diese historischen Interpretationshorizonte in Erinnerung zu rufen, bleibt gewiss ein zentrales Anliegen neuerer Arbeiten zur Geschichte der Hirnforschung. Zum Beispiel ist bei Hagner zu erfahren, dass wir das Objekt Gehirn überhaupt erst seit 200 Jahren als Organ des Denkens, als funktionalen Ort von Kognition begreifen. Noch im 17. Jahrhundert interessierte vor allem der Schädel. Er wurde jedoch nicht als Hülse des Genies verstanden, sondern vor allem als Emblem der Vergänglichkeit. Wenn wir heute das Asper-Syndrom (AS), eine autistische Erkrankung, erforschen, werden wir dabei von einer bestimmten Art zu fragen geleitet. Wie die Elitehirnforschung der 1920er Jahre interessieren wir uns für menschliche Besonderheiten und für Extreme, die es offenbar auszumessen gilt.

Nicht immer reicht Vergangenes jedoch so tief in die epistemischen Fundamente der aktuellen Hirnforschung. Oft sind es auch nur marginale Wortspuren oder flüchtige Andeutungen, die einen historischen Index tragen. Wenn der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer sein 2005 erschienenes Buch "Frontalhirn an Mandelkern" nennt, wäre dies ohne Woody Allens Film "Was Sie schon immer über Sex wissen wollten" kaum griffig. Zumindest würde der Titel dann nicht als Anspielung auf einen Kommunikationscode zu lesen sein, oder auch auf das Versagen des zentralen Steuerorgans, sich mit seiner Peripherie abzustimmen.

Wenn schließlich der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung Wolf Singer im Rahmen der "Paul-Flechsig-Lectures" einen Vortrag hält, ist damit zugleich der ehemalige Leiter des Leipziger Instituts Paul Flechsig präsent. Ebenso wie dessen berühmte Rektoratsrede "Gehirn und Seele" von 1894, in der er Verstandesareale zu identifizieren und Denkprozesse im Gehirn zu lokalisieren versuchte.

Angesichts dieser Bezugnahmen stellt sich nochmals die Frage: Worum geht es bei der kulturhistorischen Perspektivierung der Hirnforschung überhaupt? Will und kann sie einen Beitrag zur aktuellen kognitionswissenschaftlichen Diskussion leisten? Auf den ersten Blick scheint die Vergegenwärtigung vor allem von der Popularität der Hirnforschung zu profitieren, von ihr getragen zu sein und sich nicht kritisch gegen sie zu wenden. Oder geht es doch um Kritik, etwa darum, die Nachhaltigkeit von Deutungstraditionen gegen den Innovationsanspruch der Hirnforschung auszuspielen?

Wie weit auch immer der kritische Impuls reicht, erfreulich ist, dass die großen Fragen der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte auf diesem Schauplatz nur leise zu vernehmen sind. Kaum jemand stellt das Verhältnis von Kultur und Natur derzeit grundsätzlich zur Debatte oder will den disziplinären Streit um Deutungshoheiten neu aufzäumen. Letztlich versucht man gar nicht mehr, das hell-tönende Bim-Bam der Neurowissenschaftler im dunklen Klang kritischer Friedhofsglocken zu ersticken.

Vielmehr werden einzelne Bühnen des Wissens etwas greller beleuchtet. So lässt sich eine Geschichte wissenschaftlicher Objekte heute ohne ausdrücklichen und theoretisierenden Bezug auf allgemeine Kategorien wie Kultur und Natur schreiben. Denn eins ist klar: Die Geschichte der Experimentalsysteme eröffnet Schlaglichter auf das jeweils etablierte Verhältnis von Natur und Kultur. Blickt man auf die Herstellung wissenschaftlicher Objekte wie die des Gehirns in seinen Repräsentationsräumen, wird dieser Zusammenhang schnell deutlich. In den seltensten Fällen haben es Hirnforscher nämlich mit natürlichen Objekten zu tun. Das beginnt schon im 18. Jahrhundert bei Präpariertechniken, die bestimmte Strukturen sichtbar machen und andere verschwinden lassen. So führt etwa der Göttinger Anatom Justus Arnemann Versuche am Gehirn durch, zwar nicht um Kognition zu erforschen. Indem er den Blick auf das Gehirn als ein Organ mit kritischer Masse richtet, rückt er jedoch dessen zerebrale Oberflächenstrukturen, vor allem den Kortex in den Blick. Später taucht das zerebrale Objekt in Experimentalanordnungen auf, die zuerst in der neuronalen Peripherie, zum Beispiel in der Reflexforschung erprobt wurden. Wie kommt es zu einem derartigen, uns heute selbstverständlich erscheinenden Transfer? Und mit welchen Veränderungen in den wissenschaftlichen Repräsentationsräumen geht er einher? Dieser und anderer Fragen nimmt sich die Kulturgeschichte wissenschaftlicher Objekte an. Denn was die Geschichte und Herstellung ihrer Objekte betrifft, ist Hirnforschung immer schon eine Kulturtechnik. In der wissenschaftlichen Praxis scheint sich somit von jeher eine Annäherung zwischen Kultur und Natur vollzogen zu haben, wie sie nur die Kulturgeschichte ihrer Objekte aufzeigen kann.

Dr. phil. Margarete Vöhringer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, und Dr. med., Dr. des. phil. Yvonne Wübben, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der FU Berlin, arbeiten an einem Projekt zur Geschichte der Reflex- und Hirnforschung.


Titelbild

Michael Hagner: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
286 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3835300644

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