Furor poeticus

Ansätze zu einer neurophysiologisch fundierten Theorie der literarischen Kreativität am Beispiel der Produktionsästhetik Rilkes und Kafkas

Von Sandra KluweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Kluwe

"Nur so kann geschrieben werden" proklamierte Franz Kafka apodiktisch, nachdem ihm die Niederschrift seiner Erzählung "Das Urteil" in einer einzigen Nacht gelungen war: "nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele." Bei diesem Dekret handelt es sich keineswegs um das exaltierte Bekenntnis eines Erregungszustands, das Kafka später relativiert hätte. Vielmehr blieb das Ideal des rauschhaften Schreibens für Kafkas gesamtes Schaffen bindend und hemmte die Vollendung seiner größeren Prosaarbeiten, namentlich die Arbeit am "Prozess". Nicht anders ist es bei einem in stilistischer Hinsicht denkbar weit von Kafka entfernten Dichter: Rainer Maria Rilke, der dem "Kairos" von Duino zehn Jahre lang vergeblich hinterherjagte, bis eine ähnlich glückliche Konstellation 1922 auf Schloss Muzot die Vollendung der "Duineser Elegien" ermöglichte.

Im Folgenden soll jene Phase gesteigerter dichterischer Schaffenskraft, die in der Tradition den Namen 'Manie', 'furor poeticus', 'Inspiration', 'dionysischer Rausch', 'Kairos', 'Erleuchtung', 'Epiphanie' und so weiter trägt, mit Leo Navratil als 'zustandsbedingte Kreativität' bezeichnet und mit Hilfe eines in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelten Modells der Neurophysiologie erklärt werden. Zu zeigen ist, dass die bei Kafka, Rilke und vielen anderen Autor(inn)en zu beobachtende Fixierung auf das prägende 'Urerlebnis' eines furor poeticus hirnfunktionell bedingt ist, also keine individuelle Obsession und schon gar kein vormodernes, obsolet gewordenes Metaphysikum, sondern eine grundlegende und unhintergehbare Determinante geistiger Kreativität darstellt.

Zunächst zum Stand der Forschung: Im Unterschied zur 'Drogen-Literatur' Georg Trakls, Gottfried Benns und anderer gibt es zu den endogenen Rausch-Zuständen der Dichter-'Manie' keine produktionsästhetischen, die Ergebnisse der Neurophysiologie und Schaffenspsychologie integrierenden Ansätze. Es liegen lediglich ideen- und kulturgeschichtliche Studien zum Topos der Inspiration vor. In den meisten dieser Studien wird der poetisch 'inspirierte' Zustand als Mythos oder als ein diskursgeschichtlich überlebtes Ideal dargestellt. Dies ist insoweit richtig, als viele der betreffenden Dichter/innen ihre Erfahrungen des kreativen Zustands als Begegnung mit einer metaphysischen Macht stilisierten. Allerdings muss das psychophysiologische Phänomen selbst von solchen Mythisierungen unterschieden und als empirische Erfahrung festgehalten werden. Die moderne Skepsis gegenüber jeder Form von Genieästhetik, das Rationalitäts-Paradigma der Wissenschaftlichkeit und die poeta-faber-Plädoyers namhafter Dichter wie Edgar Allan Poe oder Gottfried Benn haben indessen dazu geführt, dass in der Produktionsästhetik "noch immer die zumindest implizite Tendenz" besteht, "den Anteil der bewußten Kalkulation und Planung [...] zu überschätzen", wie Walter Schönau schreibt. Demgegenüber hat die psychoanalytische Kunsttheorie von jeher den unbewussten Anteil poetischer Schöpferkraft betont und das Geheimnis künstlerischer Kreativität durch eine passagere Regression auf den Primärprozess zu erklären versucht - jenen Zustand des unbewussten Denkens, der das wesentliche Charakteristikum der Traumsprache bildet.

Die Produktionsästhetik unterscheidet in der Regel mehrere Phasen des künstlerischen Schaffens. Das Folgende bezieht sich auf die "Illuminationsphase" (Silvano Arieti) oder "Wunschphase" (Heinz Hillmann) und nicht auf die "Elaborationsphase" oder "Planphase".

Das "Zustands-Wechsel-Modell"

Nach dem "Zustands-Wechsel-Modell", das die Psychiater Martha Koukkou und D. Lehmann Anfang der 1980er-Jahre entwickelt haben und das Anfang der 1990er-Jahre in einer Anschluss-Untersuchung von Martha Koukkou und Marianne Leuzinger-Bohleber fortgeführt wurde, ist diese Engführung des Traums mit der poetischen Kreativität allerdings in Frage zu stellen: Koukkou und Lehmann führen den Primärprozess auf die niedrigeren EEG-Wellen des Schlafes (Omega-Wellen von 4-7 Hertz und Delta-Wellen von 1-3 Hertz) zurück. Diese entsprechen hirnfunktionell den EEG-Wellen der Kindheit und erlauben so den Rückgriff auf infantile Denkinhalte und -formen. Im Zustand der Wachheit, der durch Alpha-Wellen von 8-13 Hertz charakterisiert ist, sind diese Speicherplätze gesperrt. Eine direkte Gleichsetzung von Primärprozess und dichterischer Kreativität ist demnach unmöglich - obwohl die Prinzipien der "Verdichtung" und "Verschiebung", wie sie für die Traumsprache typisch sind, weitreichende Übereinstimmungen mit der Metapher und Metonymie der Literatur aufweisen: Wer schreibt, befindet sich im Wachzustand, und wer sich im Wachzustand befindet, kann jene Denkgesetze, die Freud als Primärprozess beschrieben hat, aus hirnfunktionellen Gründen nicht eins zu eins reproduzieren, geschweige denn produzieren.

Kurz: Dichtung entsteht in einem Zustand, der physiologisch durch die Kriterien der Vigilanz und nicht durch die Kriterien des Schlafs gekennzeichnet ist - allenfalls ist es der Literatur möglich, die Ränder des Schlafs zu erreichen, sich also in einen eben noch steuerbaren Halbschlaf zu begeben. Gemeinsam ist den Zuständen des Schlafs und der poetischen Kreativität allerdings, dass beide vom psychophysiologischen Normalzustand abweichen und die starke Tendenz haben, diese Abweichung aufrechtzuerhalten, also Störungen durch externe oder interne Stimuli abzuwehren.

Wie stellt sich das Modell einer 'zustandsbedingten' Kreativität aus neurophysiologischer Sicht dar? Die Antwort auf diese Frage lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen. These 1: Zustände gesteigerter poetischer Kreativität entsprechen psychophysiologisch dem Zustand einer (Hypo)Manie. These 2: Aus neurophysiologischen Gründen können Werke, die im Zustand der (Hypo)Manie begonnen wurden, nur im Zustand der (Hypo-)Manie fortgesetzt werden.

Zustände gesteigerter poetischer Kreativität entsprechen psychophysiologisch dem Zustand einer (Hypo)Manie

Zu den diagnostischen Kriterien der Manie gehören gehobene Stimmung, erhöhtes Selbstwertgefühl im Sinne eines "Ich-Orgasmus" (Donald W. Winnicott), Antriebssteigerung, Überaktivität, Enthemmung, Rededrang, beschleunigtes und assoziativ gelockertes Denken (Ideenflucht), Einfallsreichtum, Intensivierung und Multiplikation der Wahrnehmungen und Gefühle, Logorrhö, also Gedankenrasen, gleichsam eine Art Durchfall des Geistes, Distanzlosigkeit sowie eine allgemeine Steigerung der Leistungsfähigkeit, die allerdings durch Schwierigkeiten in der Antriebsfokussierung, Ablenkbarkeit und Sprunghaftigkeit beeinträchtigt wird. Diese diagnostische Beschreibung entspricht dem Befund des Psychiaters Leo Navratil, dass der "Datengehalt" und die "Datenverarbeitung" im schöpferischen Zustand gesteigert seien.

Zu den Auslösern dieser hirnfunktionellen Reaktionen gehören der außersystemische Input, das System der Informationsverarbeitung (Logik), das anatomisch im Kortex angesiedelt ist, Kurz- und Langzeitspeicher, der Emotionsapparat (Hirnstamm, Hypothalamus, unspezifischer Thalamus) und das Kontrollsystem (anatomisch: Formatio Reticularis). Das Bindeglied zwischen dem Emotionsapparat und der Logik ist das limbische System. Emotionen und Kontrollsysteme sind gemeinsam an der Funktion des vegetativen Nervensystems beteiligt. Eine biochemische Schlüsselrolle spielen die Neurotransmitter oder Botenstoffe Adrenalin, Noradrenalin, Serotonin und Dopamin, die das Lustzentrum des Gehirns aktivieren: einen Nervenstrang, der sich vom Mittelhirn über das Zwischenhirn bis zum Nucleus Accumbus des Limbischen Systems erstreckt.

Nach der diagnostischen Tabelle ICD-10 werden drei Schweregrade der Manie unterschieden: die Hypomanie (ICD-10 F30.0 / F31.0), die "symptomatisch insgesamt weniger ausgeprägt" ist, die Manie ohne psychotische Symptome (ICD-10, F30.1) und die Manie mit psychotischen Symptomen (ICD-10, F30.2).

Um diagnostisch exakt zu sein, müsste der kreative Zustand des 'normalen' Dichters, der die Grenze zur Psychose noch nicht überschritten hat, demnach als 'Hypomanie' bezeichnet werden. Da es sich um eine spezifisch poetische Form der Hypomanie handelt, kann man den in der Tradition verankerten Terminus 'furor poeticus' zur Bezeichnung des Phänomens vorschlagen - ohne freilich dessen vorwissenschaftliche Grundierung zu übernehmen: 'Furor poeticus' soll nach dieser Definition derjenige Zustand dichterischer Kreativität heißen, der psychiatrisch als 'Hypomanie' bezeichnet wird und die oben genannten diagnostischen Kriterien in gemilderter, vorpathologischer Form aufweist.

Analog zur zyklothymen Störung, bei der subdepressive und hypomane Symptomkonstellationen einander abwechseln, ist der Zustand des furor poeticus häufig an einen Zustand unproduktiver Melancholie gekoppelt. Manie und Depression sind durch hirnphysiologisch konträre Merkmale gekennzeichnet: Während für den Zustand der Manie ein erhöhter Hirn-Metabolismus beobachtet wurde, der ein 'turn-over' der Katecholamine Noradrenalin und Dopamin, frontal-subkortikale Hyperintensitäten sowie eine Vergrößerung der Amygdala einschließt, sind der Stoffwechsel des Gehirns sowie die Durchblutung der linken Präfrontalregion und der Amygdala bei depressiven Patienten vermindert. Auch wurden bei diesen Patienten eine "verstärkte Dämpfung von Reiz-Reaktions-Mustern" sowie "verminderte oder fehlende elektrophysiologische Orientierungsreaktionen" festgestellt. Dem konträren neurophysiologischen Befund entsprechen konträre Merkmale im kognitiven und affektiven Bereich: Das Denken der Depressiven ist durch Einfallsarmut und Konzentrationsstörungen gekennzeichnet, die Sprache monoton mit großen Pausen und langsamen Formulierungen. Dem durch Schwung-, Kraft- und Energielosigkeit geprägten Gesamtbefinden korrespondiert eine entsprechend gelähmte Antriebskraft und Produktivität.

Der Zustand der Depression soll in der Theorie der literarischen Kreativität nicht eigens berücksichtigt werden, zumal seine produktions- und werkästhetische Relevanz bereits hinreichend erforscht wurde. Indirekt fließt die Depression jedoch in jede Erklärung eines furor poeticus mit ein. So hat bereits Freud die These vertreten, dass sich der manische Energieschub im wesentlichen der Befreiung von all jenen Hemmungen verdankt, die im Zustand der Depression lähmend wirken: Das Ich unterwirft sein Über-Ich zugunsten des Es.

Dies gilt zunächst für die triebpsychologischen Bereiche der Sexualität und der Aggression: Im furor poeticus kann die Energie dieser Triebquellen ungehemmt in die Schaffenskraft einfließen und sich stofflich-motivisch und / oder sprachlich-stilistisch ein befriedigendes Ventil verschaffen. Es gilt darüber hinaus aber auch für den sozialen Bereich: Die Hypernormativität der Depression schlägt im Zustand der Manie in eine moralische Bedenkenlosigkeit um, die für die innovativen, nonkonformistischen Tendenzen der literarischen Avantgarde konstitutiv ist.

Aus neurophysiologischen Gründen können Werke, die im Zustand der (Hypo)Manie begonnen wurden, nur im Zustand der (Hypo)Manie fortgesetzt werden

Nach dem "Zustands-Wechsel-Modell" von Koukkou und Lehmann und einer Untersuchung über stimmungsabhängige Erinnerungen von Weingartner und Miller ist Gedächtnismaterial, "das in einem bestimmten funktionellen Zustand des Hirns gespeichert wurde", beim "Wiedereintreten des gleichen funktionellen Zustands" am leichtesten abrufbar. Dies gilt für den Wechsel von Schlaf und Wachheit ebenso wie für drogeninduzierte Zustände oder eben für die Zustände von Manie beziehungsweise Depression im Rahmen zyklothymer Erkrankungen.

Aus dieser hirnfunktionellen Determination erklärt sich die Schwierigkeit vieler Autoren, an eine im Zustand der (Hypo)Manie begonnene Dichtung in einem anderen psychophysischen Zustand so anzuknüpfen, dass Stil, Bildlichkeit und Sprache kohärent bleiben.

In der Forschung konnte diese Fixierung auf den Zustand des furor poeticus bislang nur mit der Flüchtigkeit und Unverfügbarkeit der 'Inspiration' begründet werden. Am Beispiel der Produktionsästhetik Kafkas und Rilkes sollen einige Ansätze zu einer Präzisierung des Inspirations-Topos mit Hilfe des Zustands-Wechsel-Modells entwickelt werden.

Vorab ein paar Worte zum historischen Hintergrund: Die Zustandsgebundenheit des furor poeticus kongruiert dem allgemeinen Epochengefühl der Moderne, das durch Punktualität, Plötzlichkeit und Schock geprägt ist. Die Reduktion des modernen Ichs auf ein mehr oder weniger 'unrettbares' Konstrukt, einen ephemeren "Empfindungskomplex" (Ernst Mach) führt zu einem Subjektivitätskonzept, das Einheit durch Vielheit und Dauer durch Wandel ersetzt: Die "Polyphrenie" (Wolfgang Welsch) des modernen und erst recht des postmodernen Ichs bezeichnet nichts Pathologisches mehr, sondern beschreibt die Notwendigkeit, sich von Zustand zu Zustand neu definieren und damit leben zu müssen, dass jedes Partial-Ich hirnphysiologisch und biochemisch verschieden ist und also nur bedingt in die jeweils anderen übersetzbar ist. Die zeitliche Limitierung des furor poeticus stellt die literarische Moderne somit vor ein verschärftes Kommunikationsproblem: Wenn schon die Schreibenden ihre Dichtung aus hirnfunktionellen Gründen nur im kreativen Zustand selbst verstehen und sie ihnen in einem anderen Zustand wie das Werk einer/s Fremden erscheint, so gilt dies erst recht für die Rezipierenden. Dies erklärt die Herausforderung der modernen Sprachkrise, eine maximale, aber befristete schöpferische Kraft in den begrenzten Darstellungsraum von Syntax, Grammatik und Textform überzuführen: Die moderne Erfahrung des furor poeticus bewegt sich fast immer an der Grenze der Schreibhemmung und des Schweigens, wie ein kurzer Blick auf das kreative Schaffen Kafkas und Rilkes zeigen soll.

Schreiben im Ausnahmezustand: Die Produktionsästhetik Franz Kafkas

Wie Heribert Kuhn gezeigt hat, blieb Kafkas poetische Initiationserfahrung, die rauschartige Vollendung des "Urteils" in einer einzigen Nacht, für das gesamte weitere Schaffen des Autors prägend: Kafkas "literarische Produktion, auch die der Romane, blieb an exorbitante Ausnahmezustände gebunden, in denen er sich restlos verausgabte. In den Zeitphasen zwischen den Schreibschüben lebte er oft literaturfern, manchmal gewillt, sich ganz vom Schreiben abzuwenden. [...] Er unterwirft seine vitalen Äußerungen systematisch den Techniken und Ritualen einer elementaren Grafie, mit deren Hilfe er die ersehnten Schreibekstasen zu beschwören und gleichzeitig zu bannen sucht. [...] Es gibt keinen Schriftsteller, dem das Schreiben zu einem derart archaischen Akt geraten wäre, wie Kafka. Denn auch wenn er nicht schrieb, waren Handeln und Gebaren auf eine Anbahnung von Zeichen ausgerichtet."

Mit dem Zustands-Wechsel-Modell der Neurophysiologie kann gezeigt werden, dass die scheinbar so archaische Beschwörung dieses Inspirationsschubs durchaus adäquat war: Tatsächlich konnte Kafka nur in einem ähnlichen psychophysiologischen Zustand auf die anlässlich des Initialerlebnisses aktivierten Areale und Speicherplätze seines Gehirns zugreifen und die entsprechenden Schreibinhalte und -formen, das jeweilige deklarativ-kognitive und das jeweilige prozedural-performative Gedächtnis wiederbeleben. Wenn der Zustand des furor poeticus oder der "Erhebung" (Kafka) aber einmal eingetreten war, musste eine Veränderung um jeden Preis vermieden werden: Wie Malcolm Pasley berichtet, wirkte schon der Wechsel des Schreibblocks in einem solchen kreativen Schub störend auf Kafka und drohte ihn aus seiner "Erhebung" herauszureißen. Dies ist nicht allein graphologisch - also durch die Blockade des Schreibflusses bei Absetzung der Feder - zu erklären. Vielmehr gibt es hirnphysiologische Gründe für die störende Wirkung eines produktionsästhetischen Zustandswechsels, wie an einem analogen Fallbeispiel deutlich werden soll: Angenommen, jemand hätte kurz nach dem Erwachen noch Zugriff auf die Speicherplätze des Schlafzustands und wäre demgemäß imstande, den soeben geträumten Traum aufzuschreiben, würde aber durch einen Telefonanruf gestört. Nach Beendigung des Telefonats wäre dieser Person die Erinnerung an den Traum in aller Regel nicht möglich, da die durch den Telefonanruf gesteigerte Vigilanz des Wachzustands den Zugriff auf die Speicherplätze des Schlafs verhinderte.

Ähnlich verhält es sich bei einer nachhaltigen Störung des furor poeticus: Das für den jeweiligen kreativen Zustand einschlägige Wissens- und Handlungsgedächtnis wird zumindest partiell gesperrt, die kognitiv-affektiven Prozesse und ihre neurobiochemischen Auslöser verändern sich, und der (hypo)manische Zustand droht in einen (sub)depressiven Zustand umzuschlagen. Genau genommen bewirkt bereits die Überquerung der Schwelle zwischen Kopf und Papier, Idee und Sprache eine solche Störung: Kafka beobachtete an sich selbst, dass die übergroße "Fülle" einer kreativen "Erhebung" beim "überlegten Niederschreiben" nur unvollkommen wiedergegeben werden könne und den Autor "dumpf" zurücklasse, wie Kafka es in seinen Tagebüchern formuliert. Am wirksamsten konnte der drohende Umschlag des furors in die Depression verhindert werden, wenn der Entwurf unmittelbar und planlos in einen flüssigen Schreibprozess überging, also eine Symbiose von Produkt und Produktion an die Stelle der Kluft zwischen der schöpferischen Kraft und ihrem Erzeugnis trat. Pasley bezeichnet Kafka demgemäß als einen "Konzipisten", bei dem sich die Idee im Idealfall aus ihrer Realisierung ergab. Eben dieser Idealfall war bei Kafkas schriftstellerischem Initiationserlebnis, der Entstehung des "Urteils", gegeben, wie die Handschrift bezeugt: Es gibt in diesem Text so gut wie keine Überarbeitungen, da Kafka seine (hypo)manischen Scheuklappen von 10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht ablegte, sich weder durch innere Stimuli wie Kritik, Selbstzweifel oder Metareflexion noch durch äußere Stimuli ablenken ließ, sondern planlos ins "Dunkel" hineinschrieb "wie in einen Tunnel" (Max Brod).

Aus Sicht der Neurophysiologie beschreibt diese "Tunnelthese" (Pasley) keine persönliche Marotte Kafkas, sondern ein allgemeines Merkmal zustandsgebundener Kreativität, das sich am Schaffensprozess zahlreicher Autoren belegen ließe. Hier soll ein kurzer Blick auf die Produktivität Rilkes und die Wirkungsweise des 'Ankerns' bei Schiller und Proust genügen.

Neurolinguistisches Programmieren bei Rilke, Schiller und Proust

Anders als Kafka tendierte Rilke zu einer vormodernen Überhöhung des furor poeticus im Sinne einer Offenbarung durch höhere Mächte. Das Problem zustandsgebundener Kreativität stellte sich Rilke, ähnlich wie Kafka, Musil und anderen Autoren, insbesondere bei seinen größer angelegten Werken - namentlich im Fall des Gedichtzyklus' der "Duineser Elegien". Die Initialzündung dieses Werks blieb über zehn qualvolle Jahre hinweg das unerreichte Vorbild für jene "äußerste Möglichkeit an geistig-seelischem Gestaltungsvermögen" (Manfred Engel), die Rilke in der Figur des Engels personifizierte und die ikonologisch und ideengeschichtlich mit dem Kairos der griechischen Antike enggeführt werden kann. Rilke versuchte, den günstigen Augenblick von Duino durch eine unbewusst-intuitive, teilweise spiritistisch gefärbte Selbstkonditionierung herbeizuführen, deren Funktionsweise sich mit der Theorie des neurolinguistischen Programmierens erklären lässt.

Im Zentrum steht das so genannte "Ankern", also die Herstellung und Aktivierung bestimmter Erinnerungsspeicher, die auf das Gedächtnis als Reiz wirken und bei Reaktivierung komplexe Zustände emotionaler, kognitiver, physiologischer und motorischer Art auslösen. Es handelt sich um eine Reiz-Reaktions-Kopplung oder Konditionierung, die entweder bewusst oder unbewusst vollzogen werden kann. In jedem Fall löst das neuerliche Erscheinen des Ankers denjenigen psychophysiologischen Zustand aus, der bei der Erstaktivierung des Ankers maßgeblich war.

Ein bekanntes Beispiel ist der Fall Friedrich Schillers, der seine poetische Produktivität durch den Geruch verfaulter Äpfel stimulierte. Mit der Zustands-Wechsel-Theorie kann dieser Geruchs-Anker folgendermaßen rekonstruiert werden: Während eines gut gelingenden Schreibprozesses hatte Schiller zufälligerweise diese Äpfel in seiner Schreibtischschublade. Sein Gehirn koppelte die Erinnerung an den beglückenden Schaffensrausch mit der Erinnerung an den Geruch der Äpfel - es gibt eine Direktverbindung der Nervenbahnen von dem Riechepithel der Nasenschleimhaut zum Limbischen System, das für die Anreicherung von Impulsen aus der Peripherie des Körpers mit emotionalen Tönungen verantwortlich ist (früher hieß das Limbische System Riechhirn). Der Geruch dieser Äpfel löste nunmehr automatisch die Erinnerung an den glücklichen Schaffensprozess aus und verfestigte sich zu einer idée fixe, deren Wirkungsweise sich mit derjenigen eines Placebo-Medikaments vergleichen lässt.

Ein anderes Beispiel für die neurolinguistische Programmierung durch 'Ankern' ist die bekannte Episode der Madeleine in Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit": Ein Gebäck, das in eine Teetasse getunkt und danach gekostet wird, löst hier eine Überflutung mit Kindheitserinnerungen und den an sie gekoppelten affektiven Zuständen aus: Der Stimulus des Geschmacks ändert den hirnfunktionellen Zustand so, dass auf einen normalerweise versperrten Gedächtnisspeicher zugegriffen werden kann, und zwar sowohl kognitiv als auch affektiv.

Wird ein Anker als solcher erkannt, ist er zielbewusst einsetzbar: In begrenztem Rahmen kann sich das menschliche Gehirn auf diese Weise selbsttätig manipulieren, beispielsweise euphorisieren, indem die Erinnerung an (hypo)manische Zustände durch einschlägige Anker provoziert wird. Neben Sinneswahrnehmungen wie dem Geruch der Schiller'schen Äpfel oder dem Geschmack der Proust'schen Madelaine können Signalwörter - auch, aber nicht nur poetische - oder äußere Kontexte wie zum Beispiel der jeweilige Aufenthaltsort, das Wetter usw. als Anker fungieren.

Im Falle von Rilkes "Duineser Elegien" spielte das Schloss Duino - inklusive seiner spiritistischen Atmosphäre - die Rolle eines produktionsästhetischen Ankers: Ohne um die Mechanismen neurolinguistischer Programmierung zu wissen, hatte der Dichter durchaus den richtigen Instinkt, als er seine Elegien nirgendwo als auf einem Schloss wie Duino vollenden zu können glaubte. Nach der Zerstörung von Duino schien ihm auch sein Werk zerstört, und erst auf Schloss Berg am Irchel und vollends auf Schloss Muzot in der Schweiz hoffte er an den zehn Jahre zurückliegenden Erfolg anknüpfen zu können, was nach Art einer Selffulfilling Prophecy auch gelang.

Nach der Vollendung des Werks betonte Rilke, dass es ihm gelungen sei, die Elegien "zu einem großen Kreise geschlossen, ab-geschlossen" zu haben: Das oberste Ziel, die Einheit und Kontinuität des Gedichtzyklus' zu wahren, war erreicht worden, weil die Analogie der äußeren Entstehungsbedingungen einen analogen hirnfunktionellen Zustand ausgelöst hatte. Infolge von Bio-Feedback-Mechanismen wurde dieser produktiv förderliche Zustand zusätzlich verstärkt.

Folgerungen für die literarische Produktionsästhetik

"Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen [manias mouson] in die Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst [technä] allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht, und auch seine, des Verständigen [sophrosountos] Dichtung, wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt" (Platon, 'Phaidros').

Der die Literaturgeschichte durchziehende Gegensatz zwischen Inspirations-Poetik und Regel-Poetik, ingenium und ars, poeta-vates-Modell und poeta-faber-Modell bedarf aus Sicht der modernen Neurophysiologie einer Relativierung: Ingenium est effabile; und der kreative Zustand ist bis zu einem gewissen Grad 'machbar': Die "Maschine" Mensch, deren "Erregbarkeit" in einem solchen Zustand maximal gesteigert ist (Friedrich Nietzsche), kann mehr oder weniger geschickt, kenntnisreich und sensibel bedient, wenn auch nicht geradezu kybernetisch beherrscht werden. Allerdings ist es in einem solchen Fall nicht der Text, sondern sein Produzent selbst, der die Position eines Kunst- oder Machwerks einnimmt. Anders gesagt: Je gekonnter der Künstler die produktive Maschine, die er selbst ist, zu bedienen vermag, desto eher ist er in der Lage, diese Maschine gleich einem Automaten sich selbst zu überlassen und einer 'écriture automatique', einem Rilke'schen "Diktat" oder sonst einer (hypo)manischen Eigendynamik zu überlassen. Ganz im Sinne von Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater" wird er das Ideal eines schwerelosen Schreibens also nicht durch Preisgabe seiner Reflexionsfähigkeit, sondern im Gegenteil durch ein gesteigertes Maß an Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Selbstkonditionierung erreichen. Seit Pseudo-Longinus trägt dieses paradoxe Ideal den Titel der 'sobria ebrietas'.

Auch die Dichotomie zwischen den dichterischen Produktionen des Wahns (,art brut') und der kanonischen Dichtung (,art culturel') ist aus Sicht der Neurophysiologie zu relativieren: Wenn Kreativität zustandsgebunden ist, macht es produktionsästhetisch keinen prinzipiellen Unterschied, ob es sich hierbei um einen klinisch-manischen oder einen hypomanischen Zustand handelt, denn die Abhängigkeit von hirnfunktionellen Prozessen ist in beiden Fällen ausschlaggebend. Allerdings birgt diese Abhängigkeit das Potential (relativer) Freiheit: Der Dichter wird sich in dem Maße frei von der Unverfügbarkeit einer göttlichen Offenbarung auf der einen Seite, den Drähten und Schrauben eines seelenlosen Artefakts auf der anderen Seite fühlen, als er sich selbst als 'homme machine' zu begreifen und zu bedienen gelernt hat - mit einem von Gottfried Benn zitierten Wort Paul Valérys gesagt: ",Warum sollte man nicht die Hervorbringung eines Kunstwerks ihrerseits als Kunstwerk auffassen'".

Literaturhinweise

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