Alles Bio?

Über die kulturelle Konstruktion der Natur und Birnbachers Beiträge zur Bioethik

Von Anja SchonlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Schonlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wer im Supermarkt angesichts der allgegenwärtigen Flut von Bio-Produkten das überlegene Lächeln des aufgeklärten Konsumenten aufsetzt, kann sich des Verdachts nicht ganz erwehren, dass ,Bio' doch etwas besser als nicht ,Bio' ist. Und kein ferner Tsunami und kein naher Orkan Kyrill ändert etwas daran, dass Natur und Natürlichkeit in der Alltagssprache durchweg positiv besetzte Begriffe sind. Wer oder was als ,unnatürlich' oder gar ,widernatürlich' bezeichnet wird, hat - zumindest - ein ernsthaftes Imageproblem. Dabei wird das Adjektiv ,unnatürlich' zum Beispiel für genetisch veränderten Reis verwendet, aber nicht für Herzschrittmacher und Nierentransplantationen, bei denen es sich auch um massive Eingriffe in die Natur handelt. Andererseits ziehen unfruchtbare Eltern mit Kinderwunsch eine In-Vitro-Fertilisation in der Regel einer Leihmutterschaft vor, obwohl es sich bei ersterer um ein weitaus naturferneres Vorgehen handelt.

Wie die Beispiele zeigen, ist die Wertigkeit des Arguments ,Natur' in der Gegenwart nicht eindeutig. Werbewirksam positiv konnotiert erscheint die Natur allerdings nur in der Alltagssprache. Dieter Birnbacher weist in seiner 2006 erschienen Monografie 'Natürlichkeit' in der Reihe 'Grundthemen der Philosophie' daraufhin, dass Natürlichkeit als Bewertungsprinzip im akademischen Diskurs seit der Jahrhundertwende deutlich diskreditiert ist. Vor allem die "Keule" des naturalistischen Fehlschlusses - der unrechtmäßige Schluss vom Sein auf das Sollen - hat die Glaubwürdigkeit von Natürlichkeit erschüttert und dafür gesorgt, dass naturethische Überlegungen nur in der anwendungsorientierten Ethik eine Rolle spielen. Anders urteile die Alltagsmoral, so Birnbacher: Der Bevölkerung erscheinen natürliche Gefahren wie Erdbeben und Lawinen als weit weniger bedrohlich als anthropogene Gefahren wie Krieg und Kriminalität.

Zunehmend stellt sich nicht nur die Frage, wie Natur gewertet wird, sondern auch, was überhaupt (noch) Natur ist: Angesichts von Gentechnik, Gehirnforschung, Schönheitschirurgie, Reproduktions- und Transplantationstechnik fällt es immer schwerer, Natur und ihre Grenzen zu definieren. Zumal die Grenzen im wörtlichen Sinne nicht mehr unmittelbar sichtbar sind; es erfordert zum Teil aufwändige technische Verfahren, um über den jeweiligen Grad an Natürlichkeit zu entscheiden. Gen-Reis, der trotz EU-Richtlinien in die Supermarktregale gelangt, kann auch vom aufmerksamen Konsumenten nicht identifiziert werden.

Besonders problematisch wird die Grenzverschiebung, wenn der Mensch in seiner Eigenschaft als Gattungswesen in Frage gestellt wird. Wie natürlich ist ein Klon? Die künstliche Manipulation beschränkt sich hier streng genommen auf die Körperzelle und die entkernte Eizelle, in die erstere eingebracht wird. In dem ebenfalls im letzten Jahr erschienenen Suhrkamp-Taschenbuch "Bioethik zwischen Natur und Interesse" plädiert Birnbacher dafür, künstliche Erzeugungsverfahren grundsätzlich aufgrund ihrer bestehenden Risiken moralisch zu kritisieren, nicht aufgrund ihrer Künstlichkeit. Die individuelle Menschenwürde werde nicht durch eine künstliche Erzeugung des Menschen in Frage gestellt, soweit sie nicht zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen führe. Klonen verletzte allenfalls die Würde der Gattung. Aber auch hier werden keine spezifisch menschlichen Prinzipien verletzt, sondern das Prinzip der "Zufallskombination der Gene durch geschlechtliche Fortpflanzung".

Zu der aktuellen Problematik der technisch möglichen Verschiebungen natürlicher Grenzen kommt die mittlerweile schon ältere Einsicht hinzu, dass es sich bei der Natur um ein menschliches Konstrukt handelt, das wie alles seine Geschichte hat. Dabei wird dieses Konstrukt wesentlich dadurch definiert, was als seine Antithese verstanden wird: Das Christentum postuliert in der Genesis einen positiven Naturbegriff, soweit die Natur als Gottes Schöpfung betrachtet wird. Liegt einer christlich geprägten Argumentation jedoch die Antithese Natur-Geist zugrunde, steht die Natur für Körper und Triebstrukturen und muss domestiziert werden.

Ein entsprechend polarisierendes Modell spielt auch eine zentrale Rolle für die Naturforschung im 17. Jahrhundert. Wer die Natur als zweites Buch Gottes liest, kann ihre Erforschung theologisch rechtfertigen. Wird die Erforschung der Natur jedoch ohne Gott gedacht, erscheint der 'naturwissenschaftliche' Blick auf die Natur als gefährliche Konkurrenz zur theologischen Weltdeutung. So bleibt es bei den frühen Physikotheologen gelegentlich zweideutig, ob ihre teleologische Interpretation der Natur in erster Linie der Ehre Gottes oder der Durchsetzung der Naturforschung dienen soll. Das lutherisch geprägte Verständnis der Natur als Ausdruck der göttlichen Providentia - der Vorsorge eines gütigen Gottes für den Menschen durch die Schöpfung - muss problematisch werden, wenn es durch die Naturerfahrung selbst infrage gestellt wird. Prominentestes Beispiel dafür ist die tiefe Erschütterung, mit der das Abendland auf das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 reagierte. Die daraufhin gestellte Theodizee-Frage ist auch eine Frage nach dem positiven Wert der Natur für den Menschen.

Neben konkreten negativen Erfahrungen wie Naturkatastrophen wird die Natur vor allem dann abgewertet, wenn sie in Opposition zur Kultur gesehen wird und als Abgrenzung einer elitären Klasse dient, wie etwa im französischen Absolutismus. Die geometrischen Gärten von Versailles zeugen davon, dass Natur hier domestiziert und ästhetisiert wird. Aber selbst Versailles hat sein Petit Trianon, wo im Hameau der Königin bukolische Sehnsüchte befriedigt werden können. Diese Inszenierung des 'natürlichen' Lebens inmitten eines englischen Landschaftsgartens bezieht sich aber wiederum auf idyllische Szenen aus der englischen Landschaftsmalerei, ist also kulturell und nicht natürlich geprägt. So erscheint es ebenso ironisch wie angemessen, wenn Rousseaus Büste bis heute den Eingang zum englischen Landschaftsgarten von Dessau-Wörlitz bewacht. Die künstlerisch gestaltete Personifikation des Schlagworts 'Zurück zur Natur' bildet hier den Ausgangspunkt eines ebenso künstlich wie komplex inszenierten Naturareals.

Von der Kultur als Gegensatz der Natur sind die Grenzen zur Kunst als ihre Antithese fließend. So schwelgt um 1900 die junge Dekadenz in künstlerischer Künstlichkeit, wobei ihre Begeisterung für den Verfall die Natur weniger ab- als vielmehr umwertet. Ihre traditionell negativ interpretierten Faktoren wie Alter und Krankheit werden idealisiert. Durch die lustvolle Inszenierung künstlicher und kunstvoller Umgebungen grenzt sich der décadent allerdings deutlich von der Natur ab, während die körperbewussten Vertreter seiner Generation gleichzeitig Freiluftbäder nehmen und sich 'natürlich' ertüchtigen und ernähren.

Dieser Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit gehört zu den grundlegenden Unterscheidungen, mit deren Hilfe sich der Mensch in seiner Umwelt orientiert. Birnbacher hat ihn darum seiner Monografie "Natürlichkeit" zugrunde gelegt. Außer Acht gelassen wird der Regel, dass es sich bei dem 'Gewordenen' und 'Gemachten' um Pole handelt, zu denen ein Gegenstand ins Verhältnis gesetzt wird; eine 'reine' Natürlichkeit oder eine 'reine' Künstlichkeit kommt kaum vor. Ist die Kunststoffblume künstlich? Ja, aber ihre Polymere sind aus Bausteinen zusammengesetzt, die in der Natur "vorfindlich" sind. Und die 'echten' Rosen können ästhetisch und ökonomisch sorgfältig gezüchtete Produkte sein, die im beheizten Gewächshaus unter einer Plastikplane auf einem künstlichen Nährboden gezogen worden sind. Birnbacher schlägt darum eine fundamentale Differenzierung zwischen 'genetischer' und 'qualitativer' Natürlichkeit vor: "Im genetischen Sinn sagen ,natürlich' und ,künstlich' etwas über die Entstehungsweise einer Sache aus, im qualitativen Sinn über deren aktuelle Beschaffenheit und Erscheinungsform." Diese Unterscheidung bestimmt den Charakter des bioethischen Auftrags: Wird Natürlichkeit im genetischen Sinn als Wert verstanden, so bedeutet dies Erhaltung, das heißt den Verzicht auf aktive Eingriffe. Der Wert 'Natürlichkeit' im qualitativen Sinn führt hingegen zu aktiven Maßnahmen.

Inwieweit die Technik als Gegensatz der Natur positiv oder negativ verstanden wird, hängt von der jeweiligen Fortschrittsbegeisterung ab. Die eingangs erwähnten Entwicklungen auf dem Gebiet der Biomedizin machen jedoch deutlich, dass es längst nicht mehr um eine grundsätzliche Wertung als Gut und Böse gehen kann, sondern um eine praxisbezogene Ethik gehen muss, die Leitlinien im Umgang mit den technischen Möglichkeiten vermittelt. Birnbacher weist in der "Bioethik" darauf hin, dass die Erweiterung medizinischer Möglichkeiten alte Tabugrenzen neu belebt hat. In welcher Weise darf der Mensch seine Naturbeschaffenheit verändern? Im Bereich der Selbstmanipulation erscheinen ihm Natürlichkeitsargumente als problematisch. Gegen Selbstschädigung kann rechtsethisch nur Fremdschädigung, Anstoßerregung und Beeinträchtigung von Chancengleichheit eingewendet werden. Birnbacher sieht grundsätzlich die Gefahr, dass mit Natürlichkeitsprinzipen Freiheitsbeschränkungen gerechtfertigt werden sollen, die eigentlich ästhetisch oder religiös begründet sind. Insgesamt darf Natürlichkeit nicht "in den Rang eines Allgemeingültigkeit beanspruchenden moralischen Prinzips" gesetzt werden.

Ob und was nun alles Bio ist, lässt sich nur unter Hinweis auf die kulturelle Konstruktion des Naturbegriffs, seine Geschichte und seine Zukunft beantworten und wird gerade durch seine Relativität die Menschheit zweifellos weiter im alltäglichen und akademischem Diskurs intensiv beschäftigen. Inwieweit den künstlichen Möglichkeiten der Natur ethische Grenzen gesetzt werden sollten, muss allerdings jetzt geklärt werden. Aus einer liberalen Grundhaltung und der philosophischen Position des klassischen Utilitarismus heraus leistet Birnbachers "Natürlichkeit" ebenso wie seine "Bioethik" einen zentralen Beitrag zu dieser Frage. Und wer im Supermarkt die Bio-Stände mit unfreiwilliger Sympathie beäugt, erkennt spätestens nach der Lektüre der beiden Arbeiten: Er befindet sich gerade in einer Alltagsdebatte.


Titelbild

Dieter Birnbacher: Bioethik zwischen Natur und Interesse.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
395 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518293729

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dieter Birnbacher: Natürlichkeit.
De Gruyter, Berlin 2006.
205 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3110185547
ISBN-13: 9783110185546

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