Die Geburt von Monstren

John Harvey arbeitet Geschichten auf

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Friedrich Dürrenmatts "Das Versprechen", allerspätestens jedoch seit der Verfilmung mit Jack Nicholson ist klar, dass alternde Polizisten nicht wirklich loskommen von dem, was ihnen das Leben beinahe ganz verdorben hat. Sicher, sie gehören immer noch zu den Guten, aber jedes unaufgeklärte Verbrechen beschäftigt sie noch nach Jahren. Zumindest, indem es sich in ihren Träumen herumtreibt. John Harvey lässt nun seinen alternden Ermittler Frank Elder (immer diese sprechenden Namen) unter einem Fall leiden, der nach vierzehn Jahren wieder hochkocht. Mittlerweile ist Elder aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Von Frau und halbwüchsiger Tochter getrennt, hat er sich aufs Land zurückgezogen, von Alpträumen geplagt, die einigermaßen direkt auf sein traumatisches Versagen hinweisen: Er hat vor 14 Jahren eine verschwundene Heranwachsende, Susan Blacklock, nicht finden können und sie für tot halten müssen, vergewaltigt, verstümmelt, ermordet, verscharrt. Deren Eltern leiden gleichfalls bis zum heutigen Tag unter dem Verschwinden ihrer Tochter. Getrennt lebend, bewohnt die Mutter allein ein kleines Haus in der Nähe der Stelle, wo ihre Tochter das letzte Mal gesehen wurde.

Damals jedenfalls schien alles so klar: Elder war federführend daran beteiligt, zwei mörderische junge Männer festzusetzen, die ein Mädchen im selben Alter gequält und getötet hatten. Ihnen schrieb Elder damals auch das Verschwinden Susans zu. Aber gestanden haben sie nichts. Nun kommt der jüngere der beiden Totschläger, Shane Donald, frei und Elder fühlt sich auch nach so langer Zeit an sein Versprechen gebunden Susan zu finden. Was tun? Genau das, was er immer schon getan hat, besonders in seinem früheren Leben: mit den Eltern reden, mit den Freundinnen reden, mit den Lehrern reden. Dabei kommt, vor allem nach all den Jahren, eine Menge heraus. Zum Beispiel einige Nächte mit der Mutter Susans oder ein Verhältnis zwischen dem Theaterlehrer und Susan. Auch ein fremder Unbekannter taucht auf, der vorerst nicht zu identifizieren ist.

Schub bekommt die Handlung in dem Moment, in dem Shane wieder in die Gegend kommt und erneut eine Sechzehnjährige verschwindet. Ist der alte Mörder wieder unterwegs? Nein. Und das ist das eigentlich Merkwürdige an diesem Buch: Der Autor folgt Shane auf seinen ersten tastenden Versuchen in der Freiheit, er folgt ihm auf der Flucht, er folgt ihm, als er seinen ganz persönlichen Schutzengel findet - und er folgt ihm auch wieder zurück in den Knast. Shane ist alles, nur nicht das personifizierter Böse. Anfangs der Hauptverdächtige, ist er am Ende nur noch auf einer einigermaßen gewalttätigen Flucht vor dem Entzug der Bewährung. Zwar spielt Harvey ein wenig auf der Entsetzensflöte rauf und runter, aber Shane lässt er dabei auffallend in Ruhe. Der mittlerweile Dreißigjährige hat selbst für ein fiktives Leben recht viel erlebt: Geschlagen und vergewaltigt bereits als Kind, könnte er aus den sozialkritischen Krimis der siebziger Jahre entsprungen sein: ein Produkt seiner Umwelt, das genau die Gewalt reproduziert, die an ihm ausgeübt worden ist. Einen willigeren Schüler und Assistenten als ihn könnte sich der eigentliche Gewalttäter, Alan McKeirnan, nicht wünschen. Wie wenig aber die Gewaltsozialisation bei Shane gefruchtet hat, zeigt die Szene, in der er seine neue Freundin Angel "hart ran nimmt, weil Frauen das so wollen". Was Auftakt zu einer weiteren Steigerung von Gewalt sein könnte, wird unter Harveys Regie zum Auftakt einer randständigen, dennoch aber aufrichtigen Zuneigung, vielleicht Liebe zwischen zwei jungen Leuten, die bis dahin beinahe nur Gewalt und Erniedrigung erfahren haben.

Damit rückt Harvey entschieden vom postmodernen Mythos ab, wonach das Böse nur das Böse sei, Teil der Gesellschaft, ja des Menschen, und damit unabschaffbar, unbesiegbar und immer wiederkehrend. Hier sind es auf einmal wieder die gewalttätigen Menschen, die sich ihre Monstren selber schaffen - und zwar offensichtlich, weil sich die Vernunft schlafen gelegt hat.

Dass Shane zwar nicht unschuldig ist, aber trotzdem nicht der Täter, ist dann nur konsequent. Denn so einfach funktioniert auch die Gewalt nicht. Man mag ihm deshalb ein anderes Ende wünschen, als das, was er hier findet. Zumal zu befürchten ist, dass er nur noch mehr verroht. Aber das ändert nichts daran, dass er gewalttätig ist: Auch provozierte Gewalt bleibt Gewalt.


Titelbild

John Harvey: Schrei nicht so laut. Thriller.
Übersetzt aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt.
dtv Verlag, München 2007.
448 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783423209564

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