Ein gar garstig politisch Lied

Wenig Rühmliches zum 250. Geburtstag des Geheimrats Goethe

Von Bernhard SetzweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Setzwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst kürzlich hat sogar Martin Walser etwas über ihn gesagt, wo er doch jahrzehntelang ablehnte, etwas über ihn zu sagen, er liege nicht auf seiner Linie, sei ihm fremd, der Großbürgerssohn aus Frankfurt und allzu staatstragendtreue Fürstenberater. Dann aber ist er nicht mehr drum herum gekommen, etwas zu sagen zu Johann Wolfgang Goethe, weil alle Welt Statements abgibt, jetzt zu seinem 250. Geburtstag, der ein ganzes Jahr lang gefeiert wird.

Er entdecke, so Martin Walsers neue Einsicht, den Dichterfürsten als "Selbsthelfer", an dem wir uns ein Bespiel nehmen sollten. Und dann sagte er noch etwas Erstaunliches über Goethe: "Er hat die Menschenrechte nicht proklamiert, er hat sie sich genommen."

Nach der Lektüre des soeben im dtv-Taschenbuch Verlag erschienenen Buches des amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson mit dem skandalträchtigen Titel "Das Goethe-Tabu" beschleicht einen die Ahnung, warum Goethe die Menschenrechte womöglich nicht proklamiert hat. Denn dann hätten sie ja für alle gegolten! So aber standen sie nur dem zu, der fähig war, sie sich einfach zu nehmen.

Wilson eröffnet sein Buch, das schon vor Erscheinen beträchtlichen Wirbel verursachte, gleich mit einem solchen eklatanten Fall von Ungleichheit vor dem Gesetz: Während Goethe jahrelang mit Christiane Vulpius ungeniert in wilder Ehe leben konnte, beschied man einem Professor aus Jena, der für sich und seine "treue Haushälterin" dasselbe Recht verlangte, im Falle Goethes habe das alles "ein ander Bewandniss", und was dem Geheimrat erlaubt sei, stehe einem anderen noch lange nicht zu.

Nur einer von vielen Widersprüchen. Während der Dichter Goethe in seinem "Faust"-Drama durchaus um Sympathie für eine Kindsmörderin (das Gretchen) wirbt, blieb der Politiker Goethe gnadenlos bei der Forderung, solch unglückliche Frauen mit der Hinrichtung zu bestrafen. Anders als die gängige Goethe-Forschung zeigt Wilson, daß es dabei nicht nur um eine quasi theoretisch zu entscheidende Rechtsfrage ging, sondern um einen ganz konkreten Fall: Die Hinrichtung einer gewissen Johanna Höhne aus Tannroda stand bevor, das Votum des "Geheimen Consiliums" besiegelte ihr Schicksal, sie wurde am 28. November 1783 geköpft. Überspitzt gesagt: Wilson zeigt Goethe als erbarmungslosen Schreibtischtäter!

Es war derselbe Schreibtisch, auf dem "Iphigenie" und "Tasso" entstanden und auf dem solche fatalen Beschlüsse gegengezeichnet wurden. Seit 1776 war Goethe Mitglied des dreiköpfigen "Geheimen Consiliums", das den Weimarer Herzog Carl August in allen Fragen der Staatsführung beriet, im Grunde die geheime Regierung des Herzogtums. Wie stark die Einflußnahme war, mag man alleine daran ablesen, daß sich der "Rath" wöchentlich ein- bis zweimal traf.

Hier war die Kommandozentrale einer Politik - und das ist es, worauf Wilson so nachdrücklich hinweist -, die das klassische Weimar, das so gerne als Ideal-Staat des aufgeklärten Absolutismus dargestellt wird, zu nichts anderem machte als all die anderen deutschen Fürstentümer dieser Zeit: zu einem despotischen Spitzelstaat, der sich um die Menschenrechte nicht scherte.

Friedrich Schiller konnte in einer Szene seines Dramas "Kabale und Liebe" ruhig gegen die tyrannische Praxis des Verkaufs von "Landeskindern" an ausländische Soldatenheere herzerweichend anschreiben (sie wurde bei Aufführungen eh gestrichen) - sein Busenfreund Goethe hat als Geheimrat genau dies auch fürs Herzogtum Sachsen-Weimar befürwortet und eingefädelt. Für fünf Taler pro Kopf verkaufte man straffällig Gewordene an die Soldatenwerber, eine Praxis, die Wilson wie folgt umschreibt: "Wie man unliebsame Untertanen entsorgt".

Was den Beginn der Busenfreundschaft zwischen den Klassiker-Heroen Schiller und Goethe betrifft, zeichnet Wilson, der monatelang im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar in den Originalprotokollen des "Geheimen Consiliums" recherchiert hat, ebenfalls ein wenig rühmliches Bild: Über den politisch als unsicheren Kantonisten eingestuften Schiller legte Geheimrat Goethe erst einmal eine amtliche Akte an!

Solche Kontakte wie den zu Schiller nutzte Goethe - zumindest anfänglich - dazu, sein Netz der politischen Bespitzelung zu spannen. Das sei auch der Grund gewesen, so W. Daniel Wilson in seiner zweiten Buchveröffentlichung dieses Frühjahrs, "Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik", warum Goethe dem Illuminatenorden beigetreten sei: um immer auf dem laufenden zu sein, wo sich eventuell politische Rebellion zu regen beginne.

Und wenn ein freiheitlich Denkender zu gefährlich wurde, wie Johann Gottlieb Fichte, der an der Universität Jena die französische Revolution enthusiastisch begrüßte und verkündete, in 20 Jahren gebe es keine Könige und Fürsten mehr, dann half Goethe mit, ihn von diesem Posten zu entfernen. Die Spuren dieser Säuberungsaktion verwischte der Geheimrat geflissentlich: Er ließ sich von Fichte seine Briefe zurückgeben und vernichtete sie.

Schwere Kaliber, die W. Daniel Wilson hier ausgerechnet im Goethe-Jubeljahr auffährt. In den Bastionen der institutionalisierten Goethe-Forschung verbarrikadiert man sich indes. Aus dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar war zu hören: "Was würden die Amis sagen, wenn wir Weimarer eine die Wahrheit erheischende Untersuchung zur Ausrottung der Indianer vorlegen würden?" Klingt etwas hilflos und vor allem im Vergleich völlig danebengegriffen.

Fakt ist, daß Wilson der Goethe-Forschung schwere Versäumnisse vorwirft. Man habe diese politisch brisanten Themen wissentlich ausgeklammert, um einerseits das Bild des Dichters als menschenfreundlichem Klassiker nicht zu beschädigen und andererseits dem "Musenstaat" Weimar nicht seine pseudoliberale Maske vom Gesicht zu reißen.

Unangenehme Wahrheiten also zum Jubiläumsjahr. Soll man fürderhin Goethe nach seiner eigenen Maxime beurteilen ... oder hat bei unserem Nationaldichter eben doch alles "ein ander Bewandniss"? Er jedenfalls gab einmal als Ratschlag aus: "Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Thaten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten."

Titelbild

Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar.
dtv Verlag, München 1999.
288 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3423307102
ISBN-13: 9783423307109

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