Die Irrungen des Arkadij Dolgorukij

Dostojewskijs Roman "Ein grüner Junge" in einer Neuübersetzung von Swetlana Geier

Von Heiko SeibtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Seibt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Russland ohne Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij ist wohl unvorstellbar. Ebenso wie Lew Tolstoi hat er das Bild der russischen Literatur geprägt; beide Schriftsteller zählen zu den führenden Epikern des Landes, die den Roman des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst haben. Während Tolstois monumentale Hauptwerke "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina", die seinen literarischen Weltruhm begründeten, nachhaltige Wirkungen auf die Entwicklung der Gattung des historischen Romans hatten, inspirierte Dostojewskijs Schaffen so namhafte Autoren wie Hermann Hesse, Franz Kafka, Albert Camus und Alfred Döblin. Besonders auf existentialistische und expressionistische Strömungen hatten seine Romane einen nicht unerheblichen Einfluss.

Mit dem ihm eigenen psychologischen Feingefühl erschaffte Dostojewskij in seinen Werken eindringliche, charakterlich vielschichtige Protagonisten. Der streng gläubige Schriftsteller erforschte gleichsam die unterschiedlichen Regungen des menschlichen Geistes sowie dessen Empfinden und Verhalten in Extremsituationen. Seine Romane befassten sich vorzugsweise mit den psychischen Abgründen seiner Figuren. Der Obduktion ihrer inneren Mechanismen galt stets Dostojewskijs besonderes Interesse. So auch in seinem Werk "Ein grüner Junge". Der Autor richtet sein Augenmerk in erster Linie auf die komplizierte Beziehung zwischen dem Vater und seinem einstmals verstoßenen Sohn Arkadij, in dessen Besitz sich zwei Dokumente befinden, die alle übrigen Figuren begehren und die ihm ein Gefühl der Überlegenheit verleihen. Die Erzählerfigur Arkadij Dolgorukij befindet sich zur Zeit ihrer Niederschrift in einer aufwühlenden Phase ihres Lebens. Gleichzeitig jedoch schwadroniert der junge Mann unbeeindruckt über seine Irrungen, amourösen Abenteuer und seine weltfremden Träume, die er mit Ausdauer und Unnachgiebigkeit in die Tat umzusetzen gedenkt.

Als uneheliches Kind eines verarmten Gutsbesitzers und einer Gesindemagd verbringt Arkadij seine Jugend in einer Adelspension. Später dann wird er als Privatsekretär beim Fürsten Sokolskij eingestellt und beginnt zu spielen. Dostojewskij selbst verfiel der Spielsucht in Deutschland, sie veranlasste ihn zu dem 1866 erschienenen Roman "Der Spieler". Hier wird ein verschuldeter General Zeuge, wie seine Erbtante einen erheblichen Teil ihres Vermögens verspielt.

Der 1821 als Sohn einer mittellosen Adelsfamilie in Moskau geborene und 1881 in St. Petersburg verstorbene Dostojewskij erlangte bereits im Alter von 24 Jahren mit seinem Erstlingswerk "Arme Leute" - der Geschichte von einer fatalen Liebe in einem St. Petersburger Armenviertel - Anerkennung als Schriftsteller.

Auch in seinen Roman "Ein grüner Junge" lässt er sein Wissen über die Elendsviertel in St. Petersburg einfließen. Darüber hinaus wird hier ebenso das Leben in den fürstlichen Salons und den Spiellokalen der Stadt aufgegriffen. Dostojewskijs Beobachtungsgabe ermöglicht es ihm, die verschiedenen Milieus präzise zu schildern. In der Fachliteratur wird der 1875 erschienene Roman allerdings nicht als stärkstes Werk Dostojewskijs gehandelt. Die Geduld des Lesers fordert er auch gewiss heraus. Gleich mehrere Handlungsstränge werden schon zu Beginn miteinander verschlungen. Und auch die Umsetzung seiner erzählerischen Absichten will dem Helden nicht gelingen. So verkündet er, die Ereignisse in seinem Bericht chronologisch vorzutragen, weist dabei aber immer wieder in die Vergangenheit zurück. Er beabsichtigt, auf den Punkt zu kommen, während seine Erzählung mehr und mehr ausufert. Gerade in dieser Art des Erzählens jedoch äußert sich die Mischung von Übermut, Unsicherheit und Unwissenheit, die der Protagonist in sich vereint.

Nach mehr als zwanzig Jahren liefert Swetlana Geier den Abschluss ihrer Dostojewskij-Neuübersetzungen. 1923 in Kiew geboren, studierte sie nach Kriegsende in Freiburg im Breisgau Germanistik und vergleichende Sprachwissenschaft. Später arbeitete sie als Lehrbeauftragte für russische Sprache und Literatur in Freiburg und Karlsruhe. In den 50er-Jahren nahm sie ihre Tätigkeit als literarische Übersetzerin auf.

Neben Dostojewskij gehören auch Afanasjew, Sinjawskij und Platonow zu den Autoren, deren Werke sie aus dem Russischen übersetzt. Es gelingt ihr in ihrer Arbeit, den sprachlichen Duktus Dostojewskijs ins Deutsche zu übertragen, ohne dass dieser etwas von seiner Anziehungskraft einbüßt. Gleichsam versteht sie es, einem Klassiker des großen russischen Romanciers eine neue Intensität zu verleihen.


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Fjodor Dostojewski: Ein grüner Junge.
Übersetzt aus dem Russischen von Swetlana Geier.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
832 Seiten, 65,90 EUR.
ISBN-10: 3250104337

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