Ein Blick vom Rand

Hyun Kil-un schreibt in seinem Roman "Nagelspuren" über eine Kindheit in koreanischen Kriegen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft ist es die Randposition, die ein Höchstmaß an Überblick erlaubt. So scheint die koreanische Insel Jeju, knapp hundert Kilometer vor dem Festland gelegen, kein ungünstiger Ort, um über die Kriege und Verwüstungen zu berichten, die im vergangenen Jahrhundert auf der Halbinsel angerichtet wurden.

Drei Teile hat der Roman von Hyun Kil-un, der die Stationen einer Kindheit und Jugend im Krieg zeigt. Im ersten Abschnitt erlebt der achtjährige Sechol, dessen fiktive Aufzeichnungen Hyun wiedergibt, den Zweiten Weltkrieg. Ganz von der Propaganda der japanischen Kolonialherren eingenommen, spielt er mit seinen Freunden das nach, was er sich unter den Kämpfen vorstellt; natürlich kommen nur die als Monstren imaginierten Amerikaner um, natürlich siegen die Japaner, die Sechol für unsterblich hält.

Umso größer ist die Verwirrung, als ein Onkel, der in die japanische Armee gezwungen wurde, doch fällt und als plötzlich - zu Beginn des zweiten Teils - Korea nach der japanischen Niederlage selbstständig ist und die Lehrer einen ganz anderen Nationalismus vermitteln als zuvor. Der Frieden von 1945 ist aber nur das Vorspiel neuer Kriege. Der Vater Sechols, ein reicher Dorfvorsteher, wird der Kollaboration mit den Japanern beschuldigt und bald ermordet. Schnell steigert sich die Gewalt: Hyun lässt kommunistische Partisanen das Dorf überfallen und zerstören. Folgerichtig wird bei ihm der Antikommunismus von der bäuerlichen Bevölkerung, um deren Befreiung es eigentlich gehen sollte, übernommen. Im vom Militär geschützten Wehrdorf kommt es zur Lynchjustiz an gefangenen Partisanen, und das Soldatenspiel der Kinder kennt nun immer wiederholte Niederlagen der Linken.

Wer dabei siegen darf oder sterben muss, das ist allerdings auch ein Machtspiel der Kinder untereinander. Die Rangkämpfe der Schüler ähneln denen der Erwachsenen; nur dass noch keine tödlichen Waffen zur Verfügung stehen. Die Kleinen wissen schon ganz gut, wie sie die politischen Abgrenzungen der Großen gegeneinander einzusetzen haben. Doch werden andererseits die Fronten allmählich unklar. Der Antikommunismus der Schüler wird schließlich auf eine harte Probe gestellt: Im Koreakrieg, der die Insel unberührt lässt, kommen Flüchtlingskinder auf die Insel. Stolz auf ihre Herkunft aus der Hauptstadt, verachten sie die Provinzler und bringen sie zudem die Rangfolge an der Schule durcheinander. Die politischen Freunde werden zu lästigen Konkurrenten, und Hyun beschreibt die Kämpfe, die daraus resultieren, genau. Die Erbarmungslosigkeit kindlicher Machttechnik ist freilich gemildert durch die Zuneigung, die Sechol zu dem Waisenmädchen Yuweon entwickelt.

Die Stärke des Romans liegt darin, wie Hyuns die Kämpfe der Kinder mit den historisch verzeichneten großen Schlachten der Erwachsenen verknüpft. Freilich hat das Buch auch Schwächen: Allzuoft verliert sich der Erzähler und mit ihm sein Autor in der naturalistischen Beschreibung von Details, die keine erkennbare Funktion für das Ganze haben und so einen leicht geschwätzigen Eindruck vermitteln. Der Nachteil einer Kinderperspektive ist ohnehin, dass sie politische Rahmenbedingungen nicht erfassen kann. So bleibt denn auch die Frage Sechols, "warum das grausame Massaker in einem so schönen Dorf unter so freundlichen Leuten stattfinden mußte", ohne Antwort. Man kann allenfalls vermuten, dass das patriarchalische Regime seines Vaters doch nicht so menschenfreundlich war wie das Kind es suggeriert.

Der begrenzte kindliche Blickwinkel wird im Idealfall dadurch kompensiert, dass die Kleinen die Widersprüche der Erwachsenenwelt, den Zerfall einer Ordnung genau zu notieren vermögen. Mehrere koreanische Autoren haben dieses Mittel bezogen auf den Koreakrieg angewendet. Hyun Kil-un erreicht indessen weder die Eindringlichkeit, mit der der junge Protagonist in Yun Heunggils "Regenzeit" seine zwischen die Fronten des Partisanenkriegs geratene Familie beschreibt, noch entsteht ein sprachlich und motivisch dicht gestalteter Kosmos wie in den Erzählungen Oh Jung-Hees. Auch die Schärfe, mit der etwa Ahn Jung-kyo in seinem Roman "Der silberne Hengst" die Fragwürdigkeit patriarchal-moralischer Normen aufzeigt, sucht man bei Hyun vergebens.

Wenn Sechol gegen die Autorität von Vater und älterem Bruder rebelliert, geschieht es heimlich, inkonsequent und ein wenig verklemmt. Erst im letzten Teil, der dem Roman seinen Titel gibt, spitzt sich die Konfrontation zu: Der ältere Bruder, zum Christentum konvertiert, zwingt Sechol, für jede Sünde einen Nagel in einen Balken zu schlagen und so seine Unarten öffentlich zu machen. Der brachiale Umgang mit Schuld führt erstmals im Roman zu einer konsequenten Arbeit mit Motiven, die anders als allzu einfach gestrickte Träume zuvor nicht sogleich aufzulösen sind. Allerdings löst sich dieser Teil zuletzt vom politischen Verlauf ab, der fortan nur noch als Vorwand erscheint, die Geschichte eines hindernisreichen Wegs zum Erwachsensein zu schreiben.

Die konzeptionelle Schwäche wird verstärkt durch eine Rahmenhandlung, in der Sechol später dem tyrannischen Bruder recht zu geben scheint. Indem er in einem Brief Abbitte für alle früheren Vorwürfe leistet und gar selbst noch Pfarrer wird, scheint die harte Moral bestätigt. Indem andererseits Sechol sein späteres Leben in größter Askese verbringt und wünscht, nach seinem Tod völlig ausgelöscht zu werden, bleibt doch die Frage, ob hier nicht autoritär ein Mensch zerstört wurde. Die Aufzeichnungen, die den Hauptteil des Romans ausmachen, wären so gesehen ein letztes Aufbegehren: der Versuch des alten Sechol, in der Schrift doch noch zu überleben.

Hier scheint eine spannungsreiche Konstellation auf, die der Roman insgesamt aber verschenkt. Mag man mit einiger Mühe die Kindheitserlebnisse Sechols, mitsamt allen Empfindungen von Schuld, auf das Spätere beziehen - es gibt zu viel in dem Buch, das von diesem Konflikt ablenkt. Allzu locker ist die Gestaltung; und die Übersetzer wissen grobe Unfälle zwar fast durchgehend zu vermeiden, kommen jedoch über Informationsvermittlung kaum hinaus. Auch auf der Landkarte des literarischen Korea bildet dieses Buch eine Randprovinz.


Titelbild

Kil-un Hyun: Nagelspuren. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von KIM Hiyoul und Kirstin Grönitz.
Edition Peperkorn, Thunum 2006.
272 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3929181738

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