Launen eines Bürgersöhnchens

Über den ersten Band der Tagebücher von Oscar A. H. Schmitz

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oscar A. H. Schmitz war sich selbst ein Rätsel. Seinen Prager Kollegen Gustav Meyrink fragte er einmal, warum er auf andere Menschen abstoßend wirke. "Er erwiderte, ich hätte auch für ihn etwas, das ihm manchmal einen physischen Schauer hervorrufe. Ich wirke auf ihn wie ein Malaye, der mit Dolchen, Schlangen und Feuer jongliert. Er liebe mich, aber wie man eine Schlange liebt." Ein Urteil, das in den Ohren eines Narzissten noch wie ein Kompliment klingen mag und wohl auch deshalb im Tagebuch festgehalten wurde.

Hinter der Fassade des Geistesaristokraten voller Ressentiments, des Welt- und Lebemannes war Schmitz zutiefst verunsichert. Etwa darüber, dass ihm, der im Kulturbetrieb um 1900 mit jedem bekannt war, der Rang und Namen hatte, niemand das Du anbot: "Niemand wagt es, da ich kalt und lieblos erscheine." Zum Ausgleich gab er sich gern Größenfantasien hin, von künstlerischen Erfolgen, die seine Beziehungen zu seiner Umwelt von selbst "regeln" würden. Indes, ihm blieb solch Sympathieboni bescherender Dichterruhm versagt - obgleich der heute nahezu vergessene Autor zu Lebzeiten durchaus gelesen und gelobt wurde, von Hofmannsthal etwa, Hesse oder Thomas Mann. Womit jedoch Schmitz, der 1931 starb, als Autor reüssierte, war wenig mehr als mit einem Verfallsdatum versehenes Zeitgeistschrifttum. Er veröffentlichte Erzählungen und Reiseberichte, schrieb über Mode und Manieren, Lebens- und Liebeskunst, Psychoanalyse, Okkultismus und Astrologie.

Umso lesenswerter sind seine Tagebücher, die jetzt bis Ende 2007 in drei vorbildlich edierten Bänden im Aufbau Verlag erscheinen. Verantwortlich für diese Trouvaille ist Wolfgang Martynkewicz, ein ausgewiesener Kenner der Epoche. Durch Zufall entdeckte der Literaturwissenschaftler in Marbach das bis dahin unbekannte Journal des 1873 in Bad Homburg geborenen Literaten, ein Konvolut von vier dicken Mappen. Die literarische Bedeutung des Fundes ist eher gering, umso größer sein Wert als psychologisches und zeitgeschichtliches Dokument, zeigt es doch die ungeschminkten Innenansichten eines Dandys und Bohemiens der Literarischen Moderne. Der erste Band beginnt 1896, nach dem frühen Tod des vermögenden Vaters, eines Eisenbahndirektors. Dieser Verlust bescherte Schmitz finanzielle Unabhängigkeit und setzte ihn zugleich von den väterlichen Erwartungen frei. Das Tagebuch als Medium der Selbstreflexion soll in der Umbruchsituation Orientierung und Selbstgewissheit geben und so etwas wie Identität simulieren. Mit schlechtem Gewissen gegenüber seinem verstorbenen alten Herrn beendet Schmitz sein Studium vorzeitig, geleitet von der "Einsicht, daß meine Begabung mehr auf plötzlich ans Licht kommenden Einfällen, als auf der Methodik des Gelehrten beruht."

Mit anderen Worten: Der junge Mann will Schriftsteller werden. Über Karl Wolfskehl, den er in der Schwabinger Bohème kennenlernt, schafft es der junge Schmitz, immerhin bis in die Peripherie des George-Kreises vorzustoßen und in den Blättern für die Kunst zu veröffentlichen. Doch hat München dem Möchtegern-Literaten bereits 1896 kaum noch etwas zu bieten, ihn zieht es, angetrieben von der beständigen Angst, etwas zu verpassen, zu neuen Ufern: "In München muß man dahin kommen, wo ich heute bin, zu jener Hypertrophie der Hirntätigkeit. München ist eine Stadt ohne viel Leben, mit viel künstlerischer Geistigkeit; keine anmutige Erholung, immer nur Debatten im Café, ernste Konzerte und Theater. Keine wirklich geschmackvollen Chantants, Café-Häuser oder Kokotten. In der Gesellschaft bemühen wir uns, geistreiche Zirkel zu sehen, in den Cafés und Varietés genießen wir Dinge, die es hier nicht gibt. Unsere Phantasie, sowie die Reminiszenzen an Wien, Brüssel, Italien müssen nachhelfen. Alles kommt aus der Phantasie, aus dem Verstand. Es gibt nicht genug peripherische Reize, darin liegt etwas Masturbatorisches."

Auf der Flucht vor seiner übermächtig gewordenen "Cerebralität" und der Ennui, auf der nervösen Suche nach seelischer Instinktsicherheit und neuen Reizen, quartiert sich Schmitz im Pariser Quartier Latin ein und - flaniert: tagsüber über die Boulevards und durch die Galerien und Museen, nachts durch die Vergnügungsviertel und Bordelle. Das quälende Bedürfnis, alles gesehen haben zu müssen, Schmitz kannte es genau: "Ich habe nun mit Ausnahme einiger Kunsthandlungen, die ich noch morgen besuchen will, alles gesehen, was ich hier in Paris auf dem Programm habe. [...] Ich bin nun also endlich soweit, wohin ich mich lange wünschte. Ich kann mich nun eine Zeitlang dem Zufall in die Arme werfen, und wie bedarf ich dessen! - Ich fühle mich abgestoßen von der eigenen analysierenden und registrierenden Art, wie ich oft zwischen den Dingen umhergehe. Aber ich habe nun meine Angst, etwas zu versäumen, doch wohl beruhigt [...]Ich werde nun eine Zeitlang ganz planlos leben, nichts nachlaufen, aber alles an mich herankommen lassen, dadurch mehr mit mir allein sein. [...] den wesentlichen Stimmen lauschen, die erst dann aus den Abgründen heraufflüstern, wenn der Intellekt nicht zu ausgefüllt ist." Reflexionen wie diese lassen Schmitz in mancherlei Hinsicht zu einem Prototyp des modernen Menschen werden, der sich zwischen all den Optionen, aus denen es auszuwählen gilt, selbst verliert.

Kaum der Rede wert sind dabei Schmitz' Aufzeichnungen über Kunst- oder Theatererlebnisse: "Vor der Mona Lisa: es ist neben der Venus von Milo das Kunstwerk des Louvre, das mir den tiefsten Eindruck gemacht hat. Dieses mystische Lächeln wirkt bei längerem Hinsehen fast unheimlich." In die Irre führt auch die Klappentext-Parade klangvoller Namen, mit denen Schmitz bekannt oder befreundet war - in den frühen Jahren etwa Hermann Bahr, Stefan George, Franz Hessel, Alfred Kubin, Else Lasker-Schüler, Edvard Munch oder August Strindberg. Denn was man aus Schmitz' Tagebüchern über sie erfährt, zeigt nur, wie sehr der Diarist einzig um sich selbst kreiste. So fachsimpelt er 1897 in Paris mit Munch vor allem darüber, wie die Franzosen mit ihren Kokotten, also Huren, umgehen. Von einem Treffen mit Strindberg, ebenfalls in Paris, heißt es lapidar: "Vielleicht der erste Mensch, den ich kenne, vor dem ich mich beugen kann, ohne daß es auf Kosten meines Selbstgefühls geschieht." Auch dass ihm Else Lasker-Schüler, die Schmitz 1906 in Berlin zusammen mit Herwarth Walden kennen lernt, als "der furchtbarste Blaustrumpf" erscheint, verrät nur etwas über Schmitz selbst, nämlich sein Horror vor emanzipierten Frauen.

So sind denn die Frauengeschichten des Bohemiens der eigentliche rote Faden dieser Aufzeichnungen. Auch hier galt es, nichts zu verpassen. Auf den 400 Seiten finden sich unzählige Amouren und Affären mit Bürgerstöchtern und Witwen, verheirateten Frauen und Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Kokotten; und zwischendrin werden auch schon mal die Beziehungen zu einer Ex-Geliebten erneuert. Wo immer sich der rastlos durch Europa reisende Geistesaristokrat aufhält, überall findet sich eine Grete oder Else, Bertha oder Irene, Franziska oder Germaine, die ihm freundlich hilft, seinen Triebhaushalt zu regulieren. "Neulich Besuch von Hans Weidenbusch in Paris, sehr anregend. [...] Wir schafften uns in der Nacht einige orientalisch polygame Freuden, wobei ich jedoch ziemlich kalt blieb, als wir alle zusammen waren, während sich die Sache vollkommen änderte als ich allein mit einer Frau im Nebenzimmer war."

Schopenhauer lesend, kommt Schmitz zu dem Schluss, dass sich der Trieb, ähnlich wie seine Neuigkeitssucht, nur durch das Ausleben, nicht durch Askese, überwinden lässt, und hofft unter Berufung auf Goethe auf eine Vergeistigung des Triebes zu olympischer Heiterkeit in der Zukunft. Die drolligen Kehrseiten der zur Schau getragenen Virilität werden deutlich, wenn sich Schmitz vor sich rechtfertigen zu müssen glaubt, warum er nicht bei jeder Frau "reagiert": Das "Nichtreagieren auf jedes junge schöne Weib (ist) kein Defekt, vielmehr nur eine Verfeinerung [...], eine Art Zuchtwahlinstinkt, der außer der Sympathie noch einer ganz besonderen Art der Zuneigung bedarf, um die erotische Fähigkeit zu erwecken."

Der sexuelle Leistungsdruck in Bohème-Kreisen setzt Schmitz auf die Dauer zu. Reflexionen über Kokotten und käufliche Liebe wechseln sich ab mit verquaster Geschlechtermetaphysik à la Weininger und peinlichen Sehnsuchtsbekundungen nach der einen für ihn bestimmten Traumfrau. In den wenigen einsamen Nächten wird er von seiner aus Kindheitstagen stammenden Dämonenangst heimgesucht, die Martynkewicz mit Schmitz' jüdischem Selbsthass in Verbindung bringt. Das Bedürfnis, nach all der Aufregung und Abwechslung solide zu werden, ist so groß, dass Schmitz sogar eine Heiratsannonce aufgibt. Nach 20 Blind Dates glaubt er fündig geworden zu sein, doch erlischt die Begeisterung so schnell, wie sie entflammt ist; ein Ablauf, der sich in den folgenden Jahren noch des Öfteren wiederholen wird. "Mit Mathilde zusammen gewesen. Ich habe meine Gefühle zu ihr doch überschätzt", heißt es einmal - wenige Tage zuvor hatte er sie noch als das ideale Weib für sich gerühmt.

Geradezu desaströs verlaufen denn auch die beiden Ehen, in die sich Schmitz 1901 und 1905 stürzt und die jeweils nur für wenige Monate halten, ehe sich der in Selbstmitleid und -gerechtigkeit Versinkende von seinen Gattinnen freikaufen kann. Partnerinnen, die sich ihm nicht widerspruchslos unterordnen oder ihm gar intellektuell ebenbürtig sind, lösen misogyne Reaktionen aus, schließlich hat Schmitz ein "gewisses Bedürfnis, bei Frauen [...] erzieherisch zu wirken": zur Not auch mal mit einer Ohrfeige, "um ihrer Launen Herr zu werden" - ein Mittel, mit dem er zunächst gute Erfahrungen macht, wie er schreibt.

Eine emanzipierte Frau findet allerdings auch Schmitz attraktiv, Franziska Gräfin zu Reventlow. Die beiden treffen sich im Lauf der Jahre immer wieder, im biblischen Sinne "kennen" lernen sie sich jedoch nie, trotz mehrerer gemeinsamer Anläufe. 1906 bietet sich die Gräfin an, ihm zur Erleichterung der Scheidungsformalitäten als "Zeugin" eines Ehebruchs zur Verfügung zu stehen. Die verabredete nuit galante fällt jedoch ins Wasser, da die Gräfin die Grippe ereilt. In ihrem Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen" porträtiert Franziska zu Reventlow Schmitz boshaft in der Figur des Schriftstellers Adrian: "der Herr mit dem Zwicker, der sich in eine Toga hüllt und trotzdem aussieht, als ob er eigentlich in den Frack gehört".

Der Privatier Schmitz, der seine Herkunft aus großbürgerlichen Kreisen, aller anti-bourgeoisen Attitüde zum Trotz, nie ganz ablegen konnte und dem man sein Vermögen neidete, blieb auch in den Boheme-Kreisen ein Außenseiter: "Meine künstlerischen Neigungen wurden als oberflächliche Launen eines Bürgersöhnchens belächelt, das an allem einmal nippen wollte", schreibt Schmitz einmal verbittert. Ganz falsch war das wohl nicht.


Titelbild

Oscar A. H. Schmitz: Das wilde Leben der Boheme. Tagebücher 1896-1906.
Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
540 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3351030975

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch