Die Intellektuelle als Märtyrerin

Simone Weils radikale Gesellschaftskritik

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hierzulande ist die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) fast ausschließlich als christliche Mystikerin bekannt, während ihre radikale Kritik der herrschenden Verhältnisse in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit geraten ist. In Frankreich liegen bei Gallimard in einer sechsbändigen Gesamtausgabe auch ihre frühen Schriften vor, doch sind die von Heinz Abosch in den 1970er-Jahren übersetzten und herausgegebenen politischen Texte Weils' ("Unterdrückung und Freiheit", 1975, und "Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem", 1978) in Deutschland längst nicht mehr erhältlich.

"Sie war ein Einzelgänger, auch ein Vorläufer", konstatierte Abosch. In ihrer Kritik des Marxismus als Staats- und Herrschaftsdoktrin, der Technologie, der Bürokratie und des Krieges hatte sie Berührungspunkte mit den Vertretern der Kritischen Theorie, mit denen sie ein "Denken im Angesicht der Verzweiflung mit dem unbestimmten Fluchtpunkt der Erlösung" teilte. Zugleich nahm sie in ihrer Warnung vor einem Regime der Techniker die Diskussionen um den "bürokratischen Kollektivismus" vorweg, die in ihrer popularisierenden, deradikalisierten Form schließlich in den 1940er-Jahren in die Apologie einer "Managerrevolution" ehemaliger trotzkistischer Apostaten wie James Burnham mündete.

Der von Charles Jacquier herausgegebene, im französischen Original bereits im Jahre 1998 erschienene Band "Lebenserfahrung und Geistesarbeit: Simone Weil und der Anarchismus" unternimmt den Versuch, die verschiedenen Facetten der radikalen Gesellschaftskritik Weils aus der Zeit zwischen dem Triumph des Nationalsozialismus und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu beleuchten. Neben politischen Briefen Weils und Zeugnissen von Zeitzeugen wie Boris Souvarine und Louis Mercier bietet das Buch eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen aus der Zeit zwischen 1980 und 1992, die Weil in die Kontexte des revolutionärem Syndikalismus, Spanischen Bürgerkrieges, der Stalinismus-Kritik und des politischen Engagements einordnen, jedoch selten die Grenze der Simone-Weil-Philologie überschreiten, da sie Weils radikale Kritik des Marxismus und der kapitalistischen Gesellschaft weder in einen weiteren politischen und intellektuellen Kontext stellen noch über den begrenzten französischen Horizont hinausgehen, sodass dem ganzen Unterfangen, Simone Weil aus dem politischen Vergessen zu reißen, letztlich ein Ruch des Parochialen anhaftet.

Die Ablehnung des Politischen in Weils Denken rührte vor allem aus dem revolutionären Syndikalismus, der in den 1930er-Jahren seinen Zenit bereits längst überschritten hatte. Im Rekurrieren darauf hoffte Weil einen antiautoritären Individualismus und die proletarische Gemeinschaft der arbeitenden Menschen zu vereinen, wobei sie die "ethische Dimension" des Syndikalismus überbetonte und dessen autoritäre Momente, die letztlich im Antiintellektualismus und der Verherrlichung der "produktiven Arbeit" kulminierten, vernachlässigte. Nicht zufällig setzten Sprachrohre des Syndikalismus wie Edmondo Rossoni oder William Z. Foster aus der Zeit vor 1914 ungebrochen ihre Funktionärskarrieren in den Apparaten des Faschismus oder Stalinismus fort.

Symptomatisch war Fosters Diktum während seiner Kandidatur im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1932, dass nun "die Hottentottentage für die Intellektuellen" vorüber seien. Trotz aller Kritik an der Fortschrittsideologie blieb Weil einer "Mystik der Arbeit" (wie Patrice Rolland ausführt) verhaftet, die einer ethischen und mystischen Heilmission des Proletariats folgte. Projektiert wurde eine Abschaffung der Arbeitsteilung und Spezialisierung im Sozialismus, da diese eine Aufspaltung des Individuums bedeutete. "Die Fähigkeit, frei zu urteilen, wird immer seltener", diagnostizierte sie 1933, "vor allem bei Intellektuellen aufgrund einer Spezialisierung, die jeden zwingt, in der von jeder theoretischen Forschung gestellten fundamentalen Fragen zu glauben, statt zu wissen."

Sie war - wie Rolland treffend bemerkt - "extrem voluntaristisch": Als intellektuelle Kritikerin der Intellektuellen ging sie in der Monteursuniform sowohl in die Fabrik als auch in den Krieg und unterschied sich von anderen Intellektuellen darin, dass sie nicht das Engagement suchte, sondern Zeugnis ablegen wollte. "Simone Weil wollte", schreibt Rolland, "eine Art ,Märtyrerin' sein im ursprünglichen Sinn des Wortes: Zeugnis ablegen durch den Körper und den Geist in einer Zeit, in der die Verhältnisse diesem Zeugnis noch mehr Bedeutung verleihen." So stürzte sie sich auch aus dem Pariser "Hinterland" in den Spanischen Bürgerkrieg, den sie - im Gegensatz zu ihren anarchistischen Freunden - als "Söldnerkrieg" empfand. Kurz vor ihrem Tod im Jahre 1943 sah sie schließlich den Pazifismus als kriminellen Irrtum an und verurteilte Pazifisten als Kapitulanten und Kollaborateure im umgreifenden System des europäischen Faschismus'. Wie jedoch Christopher Benfey im Vorwort zur amerikanischen Neuausgabe von Weils "L'Iliade ou le Poème de la force" treffend bemerkt, bedeutete ihre Abkehr vom Pazifismus nicht, dass ihre Beschreibung des Soldaten als willenloses Werkzeug der Gewalt und Vernichtung obsolet wäre.

Leider versäumt es das Buch, Simone Weil und ihre Reflexionen in den historischen wie den aktuellen Kontext zu situieren. Während sie hierzulande als obskure Figur durch die politischen und philosophischen Landschaften geistert, war sie im Milieu kriegskritischer Intellektueller in New York während der 1940er-Jahre eine bestimmende Figur. Dwight Macdonald, der Herausgeber der libertär-pazifistischen Zeitschrift "Politics" und amerikanischer "Entdecker" Simone Weils, sah in ihr eine "Originalität und Tiefe" wirken, welche "die tragische historische Krise, in der wir leben", ausleuchteten. Für Intellektuelle wie Macdonald war Weil Inspiration zur Zurückgewinnung der Ethik als Ausweg aus entwürdigenden und erniedrigenden Prozessen der Gegenwart, ohne dass jedoch tatsächlich der Versuch unternommen wurde, den "Fluch des modernen Intellektuellen" (wie Macdonald die kontemplative Haltung der denkenden und schreibenden Menschen nannte) im System der Büro- und Technokratien zu überwinden. Das verschüttete Potenzial in Simone Weils Reflexionen vermag auch dieser Band nicht offen zu legen, da es ihm an der nonkonformistischen Kritik, die Simone Weil auszeichnete, mangelt. So weist er schließlich nur vage darauf hin, was möglich wäre.

Bedauerlicherweise fühlten sich die Übersetzer Lou Marin, Beate Seeger und Silke Makowski genötigt, Anmerkungen, Erläuterungen und Zitatnachweise in den Text zu integrieren, was auf Kosten der Lesbarkeit geht, zumal die Beiträge nicht aufeinander abgestimmt sind und so eine Redundanz der Zitate aus den Bänden "Unterdrückung und Freiheit" und "Fabriktagebuch" auftritt. Darüber hinaus entmündigen die Übersetzer den Leser, indem sie nicht allein historische oder landesspezifische Hintergründe erläutern, sondern selbst Begriffe wie "Malheur" oder "Aporie" erklären, als bedürfe der Rezipient solcher überflüssiger, fast schon impertinenter Hilfestellungen, um die Texte zu verstehen. Die Autoren insistieren auf Freiheit, die Verbindung von Denken und Handeln, auf befreiende und befriedigende Geistesarbeit, die auch Lou Marin in seiner Einleitung hervorhebt, doch die publizistische Praxis der autoritären Bevormundung konterkariert diesen Anspruch in eklatanter Weise. Vermutlich handelten die Übersetzer aus gut meinender Absicht, doch widerspricht die praktische Entmündigung des Lesers dem Anliegen dieses Buches: die Zurückgewinnung der Freiheit. Wenn diese nicht einmal dem Leser zugestanden wird - wie ist es dann um das größere politische Projekt bestellt?


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Simone Weil: War and the Iliad.
Übersetzt aus dem Französischen von Mary McCarthy.
New York Review of Books, New York 2005.
132 Seiten, 13,50 EUR.

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Titelbild

Charles Jacquier (Hg.): Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus.
Übersetzt aus dem Französischen von Lou Marin, Beate Seeger und Silke Makowski.
Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006.
380 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3939045047

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