Labyrinthische Weite

Bernardo Carvalhos zweiter Roman "Mongólia" erscheint nun auch auf Deutsch

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Routen, die sich nicht kreuzen, obwohl laut Legende die des einen auf den Spuren des anderen verlaufen soll. Diese Routenkarte der Mongolei erzeugt zusammen mit dem labyrinthischen Kafka-Motto noch vor Textbeginn eine Ahnung von Verirren, von Vergeblichkeit oder Unentrinnbarkeit.

Und wirklich ist dies der Geist von "Mongólia", dem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman des hoch gehandelten Brasilianers Bernardo Carvalho - auch wenn die Reiserouten dann weit weniger absurd sind als gedacht. Der Autor zeigt die Weite als Labyrinth. In einem Land von Nomaden hängt der Weg eines Suchenden nicht von Orten ab, sondern von Menschen, eine Lektion, die der "Westler" von seinem mongolischen Guide zu lernen hat.

Der "Westler" wie der Erzähler entstammen dem diplomatischen Milieu. Ein brasilianischer Fotograf ist in der Mongolei verschollen, sein Vater sorgt sich halb tot und setzt den diplomatischen Apparat in Bewegung. Der Westler, brasilianischer Vizekonsul in Shanghai, rückt nach Peking vor und wird vom Erzähler, der den Botschafter vertritt, als Tourist getarnt auf die Suche geschickt. Doch er weigert sich zunächst, ohne Gründe anzugeben, er erbleicht nach Durchsicht der Akte. Der Chef und Erzähler überhört das und zwingt ihn, der Weisung des Außenministeriums Folge zu leisten.

Die Erzählung seiner Reise beruht auf dem Tagebuch des Westlers und auf dem des Verschollenen. Der Erzähler, der sich seit Jahrzehnten vor seinem eigenen Schreibdrang drückt, zitiert aus diesen Tagebüchern, fasst zusammen und kommentiert. Er glaubt, die sachlich abgefassten Aufzeichnungen seien in Wirklichkeit an ihn gerichtet, zur Erklärung. Gleichzeitig bezweifelt er die Zuverlässigkeit dieses Textes, der Westler traue nicht einmal selbst seinen Worten. Tatsache ist, dass die persönliche Verstrickung des Westlers mit dem Verschollenen hier nicht gelöst wird, dies geschieht erst im letzten Teil, und die Lösung kommt von außen. Die Suche danach in den Tagebüchern war also vergeblich. Oder hat er nur die falschen Stellen zitiert? Der mehrfach vermittelten Erzählstruktur - gut übrigens, dass der Titel auf Portugiesisch belassen wurde - entspricht die Ungesichertheit des Erzählten.

Die finale Pointe erklärt nämlich keineswegs alles. Im Haupttext ziehen Rätsel neue Rätsel nach sich, statt sich zu lösen. Die Suche nach dem Verschollenen führt zur Frage, was ihn so fasziniert hat, dass er auf gefährliche Abwege im Gebirge im kontinentalen Winter geriet. Der Westler stößt auf eine buddhistische Göttin der Grausamkeit und auf die Geschichte eines Lamas, der einst eine Nonne vergewaltigt haben soll, die ihm trotzdem Jahre später zur Flucht vor den Kommunisten verholfen habe, wobei der Lama durch die Grausamkeitsgöttin eine Vision vom "Anti-Buddha" empfing. Oder war die Vergewaltigung beidseitiger Sex als Mittel zur Erleuchtung - und wäre die blutrünstige Sexgöttinnenstatue als Mahnung zur Triebbeherrschung zu verstehen?

In der kulturellen Fremde ist nichts auszuschließen, alles ist mehrdeutig. Nicht einmal zwischen bedeutsam und unbedeutend, gefährlich und ungefährlich lässt sich unterscheiden. Auch Misstrauen hilft nicht weiter: Der Erzähler misstraut den Worten des Westlers und entschlüsselt sie doch nicht, der Westler misstraut seinem Guide und ist doch auf ihn angewiesen. Hier ist man mitten im Labyrinth. Wie schon im Vorgängerroman "Neun Nächte" hat das Fremde aber auch schön komische Züge, etwa im Videoclip eines mongolischen Liebeslieds. Da steht das singende Liebespaar in Tracht auf einem Berg, und die Frau haut sich den Blumenstrauß ins Gesicht, um Fliegen zu verscheuchen.

Warum eine kahlköpfige Informantin verschwindet, ob nicht etwa eine junge Nonne, sondern vielmehr ein junger Mann den Lama führte, ob der Verschollene schwul ist und sich deshalb so für einen homosexuellen Mythos interessiert - all das wird angerissen, aber nicht aufgelöst.

Der Text ist trickreich und subtil. Er setzt sich der Gefahr aus, im Hauptteil konfus und in der Pointe zu simpel zu wirken, sprachlich kommt er streng und schmucklos daher. Sein Geflecht von sorgfältig gearbeiteten Motiven liegt unter der Oberfläche. "Mongólia" umkreist bis in die Erzählklammer hinein die Ambivalenz von Gewalt, die Unbegreiflichkeit des Fremden und die Suche nach dem Abwesenden - das individuell mit Bedeutung aufgeladen wird. So möchte der Verschollene die Orte fotografieren, an denen dem Lama der Anti-Buddha erschien; für den Uneingeweihten wäre darauf außer Landschaft nichts zu sehen. Und ein Foto von ihm selbst wird nur dadurch geheimnisvoll, dass er verschollen ist.

Das Unbegreifliche auszuhalten, das verlangt der Text von seinen Lesern. Bei so viel Ambivalenz wird der vermeintlich nur wiedergebende Erzähler vom verhinderten zum wirklichen Autor, und Bernardo Carvalho präsentiert sich als einer von denjenigen jüngeren südamerikanischen Schriftstellern, die den Magischen Realismus nicht brauchen, weil die Welt selbst genug Mirakulöses liefert, die es eher mit Bórges als mit García Márquez halten.


Titelbild

Bernardo Carvalho: Mongolia. Roman.
Übersetzt aus dem Brasilianischen Portugiesisch von Karin Schweder-Schreiner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630871738

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