Annäherung an ein kaltes Herz

Eine Wiederentdeckung: Michail Lermontovs Roman "Ein Held unserer Zeit" in einer Neuübersetzung

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch Unholde haben es nicht leicht. "Weshalb sie mich so liebt, ich weiß es wirklich nicht!", kokettiert der Protagonist von Lermontovs Roman "Ein Held unserer Zeit". "Um so weniger, als sie die einzige Frau ist, die mich völlig begriffen hat [...] Ist das Böse wirklich so attraktiv?"

Man kommt nicht umhin, die Frage mit Blick auf den "Helden" dieses Klassikers zu bejahen. Mit der Figur des jungen Offiziers Pecorin hat der damals 26-jährige Michail Lermontov 1840 den Topos des überflüssigen Menschen mitbegründet, von denen es in der russischen Literatur nur so wimmelt. Anders aber als der am liebsten im Bett liegende Oblomow, um nur einen Vertreter dieses Schlages zu nennen, ist Pecorin auf der Flucht vor seinem Feind, der Langeweile, ein rechter Hasardeur. Denn wem weder das Leben noch die Liebe etwas bedeutet, riskiert besser einen hohen Einsatz, kann doch nur der Nervenkitzel das Gefühl der Sinnleere betäuben.

So nutzt Pecorin im Hauptstück des aus fünf ineinander verschachtelten Novellen bestehenden Romans den Aufenthalt in einem Kurstädtchen, um ganz im Stile von Choderlos de Laclos "Gefährlichen Liebschaften" eine perfide Intrige zu spinnen. Seinen Freund Grušnickij hintergeht er dabei ebenso wie die schöne Fürstentochter Mary. Deren Herz erobert er allein deshalb, um es danach genüsslich brechen zu sehen. Triumphierend notiert er in seinem Journal: "Anderen Grund zu sein für Leiden und Freuden, ohne darauf das geringste Recht zu besitzen, ist das nicht die süßeste Nahrung für unsern Stolz?" Dem jähen Verdacht, er könnte sich selbst verliebt haben, begegnet er nur mit einem barschen "Unsinn!" Tatsächlich: Seine Kaltherzigkeit übertrifft noch die seines Vorbildes, des Vicomte de Valmonte.

Staunen lässt dabei nicht nur die psychologische Meisterschaft Lermontovs, mit der hier menschliche Abgründe ausgelotet werden. Sondern ebenso die überraschend modern anmutende Komposition des Romans. Dafür, dass Lermontovs Protagonist den Leser in seinen Bann schlägt, sorgt auch Lermontovs Trick, sich an die Hauptfigur gleichsam Kapitel für Kapitel heranzuzoomen. Zuerst erfährt ein fiktiver Erzähler durch eine Reisebekanntschaft von Pecorin. Beim Tee erinnert sich der gutmütige Stabshauptmann Maksimycan seinen rätselhaften jungen Freund und an gemeinsame Abenteuer in einer Festung im Kaukasus.

Bald darauf begegnen der Erzähler und Maksimycauf ihrer Reise Pecorin selbst. Doch wird Maksimyc' Wiedersehensfreude durch den "Freund" bitter enttäuscht. Pecorin lässt sich nicht aufhalten, hinterlässt aber sein Journal, das der Erzähler veröffentlicht. Erst jetzt ist der Prozess der Annäherung abgeschlossen. Nun erlebt der Leser Pecorin unvermittelt, als schonungslosen Diaristen und Analytiker in eigener Sache. Pecorins Lebensgeschichte muss vom Leser freilich erst zusammengesetzt werden, denn die Bauweise sorgt dafür, dass die Chronologie der Ereignisse auf den Kopf gestellt wird.

Peter Urban hat den Roman für die Friedenauer Presse gewohnt zuverlässig übersetzt und mit kenntnisreichen Anmerkungen versehen. Überzeugend stellt er ihn dabei in aktuelle Kontexte. Denn Lermontovs zwischen den Zeilen dröhnende Kritik am Militarismus seiner Zeit und der russischen Unterdrückung der kaukasischen Bergvölker wirft ein bezeichnendes Licht auf das Russland Putins und seinen Krieg in Tschetschenien. Lermontov kannte den Kaukasus, damals die "heiße" Variante Sibiriens, aus eigener Anschauung, war er doch 1837 dorthin verbannt worden. Ein Gedicht hatte ihn beim Zaren in Ungnade fallen lassen. Vier Jahre später starb der Dichter bei einem Duell: Während er in die Luft schoss, zielte sein Gegner so lange, bis sogar die Sekundanten protestierten. Eine Kaltherzigkeit, die Lermontovs Werk nachträglich bestätigt. Denn gefragt, was er von Pecorins Charakter halte, hatte der Dichter nur - auf den Titel seines Romans verwiesen.


Titelbild

Michail Lermontov: Ein Held unserer Zeit.
Herausgegeben von Peter Urban.
Übersetzt aus dem Russischen von Peter Urban.
Friedenauer Presse, Berlin 2006.
300 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3932109465
ISBN-13: 9783932109461

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