Heidnische Antike in christlicher Anverwandlung

Ein Sammelband untersucht den Einfluss des Hellenismus auf die Philosophie der Frühen Neuzeit

Von Lutz BergemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Bergemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die frühneuzeitliche Auseinandersetzung mit dem Hellenismus ist durch die Notwendigkeit der Anpassung heidnischer Lehren an das christliche Weltbild bestimmt. Wie der "Einfluss der griechischen Antike auf die Philosophie der Frühen Neuzeit" sich im einzelnen vollzogen hat, untersucht der vorliegende, von Gabor Boros in der Reihe "Wolfenbütteler Forschungen" herausgegebene Sammelband an exemplarischen Fällen. Über die Feststellung einer bloß 'passiven' Einwirkung, die der Begriff "Einfluß" suggeriert, reichen die meisten Untersuchungen weit hinaus. Angemessener wäre es daher gewesen, bereits im Titel auf diesen Aspekt aktiver Aneignung hinzuweisen, zumal viele der Beiträge die kreative Umdeutung hellenistischer Philosopheme untersuchen und damit beispielhaft die Relevanz und die Fruchtbarmachung der Antike in der Frühen Neuzeit aufzeigen.

Besonders interessant sind dabei die Fälle, in denen Sachverhalte der heidnischen Antike dem christlichen Weltbild der Neuzeit angepasst werden müssen, um sie weiter nutzen und funktionalisieren zu können. So steht zum Beispiel im Fall des Atomismus dessen Attraktivität für die Naturphilosophie und die entstehenden Naturwissenschaften in starker Spannung zu atomistischen Thesen, die für christliche Rezipienten nicht annehmbar waren, zum Beispiel die Sterblichkeit der materiell konzipierten Seele. Catherine Wilson zeigt nun in ihrem Aufsatz "The Lucretian Theses of Dissolution and Mortality: Some Early Modern Responses" anhand der Harmonisierungsversuche von Descartes, Spinoza und Leibniz paradigmatisch auf, wie versucht wurde, mit derartigen Spannungen auf eine produktive Weise umzugehen.

Leider fehlt dem Band eine strukturierende Einleitung, es lassen sich aber vor dem Ansatz, den Einfluss des Hellenismus als Aneignung und Umdeutung zu verstehen, verschiedene Argumentationsstränge oder -zentren ausmachen: ausgehend von den hellenistischen Philosophenschulen, von thematischen Schwerpunkten und ausgehend von den neuzeitlichen Philosophen und Gelehrten selbst, die sich dem Hellenismus und seinen Philosophien zuwenden (unter anderem Descartes, Lipsius, Spinoza, Hobbes).

Zwei der thematischen Schwerpunkte bilden Ethik und Erkenntnistheorie im weitesten Sinne, hinzu kommen Aufsätze zur Poetologie (Zeuch), zur Seelenlehre und Metaphysik (Lautner) und zur politischen Philosophie (Ludwig).

Behandelt werden themenspezifisch (fast) alle bedeutenden Philosophenschulen des Hellenismus mit einem jedoch erkennbaren Schwerpunkt auf Stoa, Epikureismus/Atomismus und Skepsis, wobei die einzelnen Aufsätze die neuzeitlichen Aneignungsversuche, die zugleich in den meisten Fällen produktive Umdeutungen der hellenistischen Referenztexte darstellen, detailliert und in den meisten Fällen plausibel und überzeugend aufzeigen.

Beispielhaft sei dies am Aufsatz Jan Papys über "Neostoizismus und Humanismus" verdeutlicht, der "Lipsius' neue Lektüre von Seneca in der 'Manuductio ad Stoicam philosophiam' (1604)" untersucht. Mit Lipsius wurde (wie auch mit zum Beispiel Hobbes, Descartes oder Robertello) eine zentrale Gestalt der Antikenaneignung der Neuzeit gewählt, die sich aufgrund ihrer Bedeutung besonders eignet, die Verbindung von stoischer Ethik, Naturphilosophie und christlichen Glaubensinhalten zu untersuchen. Dabei ist die "Manuductio" auch zentral für die von Lipsius erstrebte "neue philosophische Synthese zwischen christlicher Glaubenslehre und Stoizismus", ein Ziel, das deutlich mehr ist als bloßer 'Einfluss des Hellenismus' auf Lipsius - vielmehr übt Lipsius in seiner "christlichen Interpretation von Stoizismus" mindestens ebenso Einfluss auf die Tradierung von Senecas Philosophie aus. Erstrebt wird von ihm nämlich eine Aneignung und Funktionalisierung Senecaischer Ethik zum Zweck der praktischen Relevanz: Seneca soll in unruhigen Zeiten eine geistige Zuflucht mit dem Ziel der Besinnung und der Seelenruhe für die christlichen Leser des Lipsius bieten. Um Senecas Texte derart instrumentalisieren zu können, muss Lipsius sich auch mit der stoischen Physik auseinander setzen, die es mit dem christlichen Glauben zu einer "christianisierten neostoischen Naturphilosophie" zu integrieren gilt. Jan Papy thematisiert in diesem Zusammenhang die dabei von Lipsius verwendeten Transformationstechniken: "die allegorische Interpretation, den Gebrauch von Equivalenten und die neoplatonische 'Korrektur'".

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Modell des Umgangs mit der hellenistischen Philosophie, das auch in anderen Aufsätzen, zum Beispiel in Markus Schmitz' Aufsatz "Stoische Erkenntnistheorie bei René Descartes und ihre Funktion in der Wissenschaftstheorie" sichtbar wird: Die Kombination und Integration verschiedener (hellenistischer) Texte ermöglicht die Transformation und die Aneignung hellenistischer Philosopheme in der Frühen Neuzeit, trotz bestehender Unterschiede, ja sogar Widersprüchen zwischen den hellenistischen Philosophien und der christlichen Theologie.

Paradigmatisch lässt sich also an Papys' anregender Analyse von Lipsius' Umgang mit Seneca ablesen, wie Antike in der Frühen Neuzeit (und nicht nur in dieser Zeit) ihre Relevanz behielt und behalten kann: Sie wird aufgelöst, ihre verschiedenen Aspekte und Themen werden transformiert und rekombiniert und bleiben gerade dergestalt - bis in die Moderne und Postmoderne - ebenso bedeutsam wie stimulierend.

Wie diese zur schließlichen Aneignung führenden Umdeutungen hellenistischer Inhalte in der Frühen Neuzeit auf dem Gebiet der Philosophie abgelaufen sind oder sein könnten, zeigen an klug ausgewählten Beispielen überzeugend die informativen und quellennahen Aufsätze dieses Sammelbandes, die aufgrund ihres paradigmatischen Charakters nicht nur für Spezialisten der Frühen Neuzeit von Interesse sein dürften.


Titelbild

Gábor Boros (Hg.): Der Einfluss des Hellenismus auf die Philosophie der frühen Neuzeit.
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2005.
198 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3447052880

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