Spiele (mit) der Lesbarkeit

Franz M. Eybls Kleist-Lektüren

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Suchbilder, die die literaturwissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten von Heinrich von Kleist und seinem Œuvre zeichnet, sind so vielschichtig und schillernd wie dessen "Erschütterungskunst", wie der in Wien lehrende Literaturprofessor Franz M. Eybl in seinen anregenden "Kleist-Lektüren" das verbindende Signum des Werks einleitend benennt. Kleist als Dichter der "Auflösung der Ordnungen", als "Überwinder der Binarität", als Meister der auf die Spitze getriebenen Antagonismen, der Uneindeutigkeit und der "Ununterscheidbarkeit zwischen dem vermeintlich klar Gegensätzlichen" sei "an heutige Fragen anschließbar". Um Kleists "poetologisch nicht herleitbare Kunst der Erschütterung zu verstehen", seien, so Eybl, drei "tragfähige", einander aber ausschließende "Möglichkeiten" entwickelt worden. Zum einen eine "hermeneutische Auflösung der Zerstörung und Verunklarung durch den Hinweis auf bestimmte Hintergründe" - etwa das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Romantik - oder zum anderen die Fokussierung auf die "Kant-Krise", wie dies etwa Bernhard Greiner in seiner jüngsten Kleist-Monografie (2000) versucht hat. Eine "dritte Möglichkeit des Umgangs mit dem Verstörenden" in Kleists Texten biete "die poststrukturalistische Auffassung", Kleist führe die Unmöglichkeit jeglicher Mimesis vor.

Man muss die hermeneutischen Prämissen von Jochen Schmidt in seiner Kleist-Monografie (2003) nicht teilen, um mit ihm zu konstatieren, dass "kein anderer deutscher Dichter" so sehr "den dekonstruktivistischen Impetus befeuert" habe wie Kleist. Allerdings reitet Schmidt (siehe literaturkritik.de 5/2005) - ganz im Sinne von Eybls eingangs konstatierter Unversöhnlichkeit der methodischen Prämissen - zugleich scharfe und polemische Attacken gegen solcherart "antihermeneutische Text-Lektüren", die innerhalb der Kleistforschung zudem meist in "apodiktischer Peroration" und "enthistorisierender Dekonstruktion" vonstatten gingen. Dabei ist Schmidt vor allem die Vernachlässigung der "historischen Matrix" ein Dorn im Auge, weshalb er - wie der Untertitel präzisiert - Kleists "Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche" verstanden wissen will.

Richtig an Schmidts Invektive ist jedenfalls, dass "ein nicht unbedeutender Teil der Forschungsbeiträge vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten auf literaturtheoretischen Debatten und Methoden" basieren, "die ihren Ursprung vorwiegend in Frankreich und den USA haben", wie dies der von Marianne Schuller und Nikolaus Müller-Schöll 2003 herausgegebene Sammelband "Kleist lesen" nachdrücklich deutlich macht.

Gegen eine dermaßen unversöhnlich gegeneinander stehende methodische Zugangsweise zwischen Hermeneutik auf der einen und Dekonstruktivismus auf der anderen Seite - eine Antinomie, die Eybl in dieser Deutlichkeit vereinfachend skizzierend erst stark macht - intendieren die hier vorgelegten "Kleist-Lektüren" einen versöhnten Mittelweg einer ",sanften Dekonstruktion', die darin besteht, die Erschütterung der Verweise zwischen den Codes und dem Gemeinten und die fortwährende Erzeugung von Uneindeutigkeit zwar zu registrieren, aber den literarischen Text nicht vollständig von seinem Verweishorizont abzulösen", eine Vorgehensweise, wie sie unter lacanistischen Vorzeichen etwa 2005 auch Helga Gallas in ihrer Monografie "Kleist. Gesetz - Begehren - Sexualität" durchexerziert hat (siehe literaturkritik.de 2/2006). Insofern begreift Eybl Kleists Texte als Spiele, die ihre "Unlesbarkeit" vorführen, als Versuchsanordnung, die ihre "künstlerische Form" permanent "untergraben": Daher gelte es, die historische Matrix bei der Sinnerschließung der Texte mitzubedenken oder mit anderen Worten: "Die historischen Voraussetzungen literarischen Verstehens als Voraussetzungen von Kleists Missverständnis wahrzunehmen und wenigstens in Ansätzen zu rekonstruieren, ist dabei Anliegen einer historistisch verstandenen Hermeneutik, die von der Frage nach dem Sinn nicht lassen will."

In vierzehn Kapitel - jeweils "mit einer begrenzten Anzahl von Anmerkungen, die der guten Lesbarkeit und Einfachheit halber in den Text gestellt sind" und sparsamen Fußnotenverweisen auf einige Eckpunkte der Forschung - gliedert Eybl seine "Kleist-Lektüren", wobei "einige Abschnitte weitgehend Bekanntes" weiter zuspitzen, "was die Informationen handlich bündelt; in anderen Erläuterungen wie jenen zur Exposition des Zerbrochnen Krugs, zur Marquise von O... oder zur Heiligen Cäcilie wird mit Hilfe aktueller Quellen und Sichtweisen interpretatorisches Neuland betreten, was auch die Forschung interessieren könnte."

Nach einigen konzentrierten "Grundinformationen", Hinweisen zur Bibliografie und zum Forschungsstand im Einführungskapitel bietet das zweite Kapitel knappe Hinweise der Stationen Kleists "auf dem Weg zum Dichter". Nach den eingangs dargelegten methodischen Prämissen widmet Eybl der Kant-Krise, jener "Wetterscheide zwischen den von der Verstehensmethode her eher traditionellen Auslegungen einerseits und den dekonstruktivistischen Kleist-Lektüren andererseits", dabei längere Ausführungen und kommt - etwa gegen Bernhard Greiner - zum Schluss: "Die 'Kant-Krise' ist ein alleiniges Phänomen der Briefe Kleists sowie der sonstigen Quellen, nicht jedoch ein den poetischen Texten primär ablesbares Konstituens".

Das nächste Kapitel ist der "Familie Schroffenstein" gewidmet, ihrem "Editionsproblem" im allgemeinen sowie unterschiedlichen Deutungsansätzen: Während Kluge den Text als ein Drama der "Zerstörung und Selbstzerstörung des Menschen durch Erkenntnis" liest, begreift Greiner ihn als ein Stück der "ästhetischen Wende" nach der Kant-Krise, und Schmidt siedelt das Drama seinen Prämissen gemäß "im Kontext der Aufklärungsphilosophie" an. Kleist demonstriere, so Eybl, mit den "Schroffensteinern", wenngleich im starken Rückgriff auf Vorbilder, gerade nicht mehr die Wirksamkeit der "klassischen Ästhetik, in welcher Kunst als heilendes Komplement eines von Entfremdung und Zersplitterung bedrohten Lebens verstanden wird."

"Kleists Poetik der Sprachskepsis" wird im vierten Kapitel vor allem anhand der Briefe und einiger Artikel aus dem "Phöbus" sowie der "Berliner Abendblätter" erörtert, wobei die 2003 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Habilitationsschrift von Dieter Heimböckl: "Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprache im Werk Heinrich von Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne" nicht berücksichtigt wird. Eybl kommt zum Schluss: "Die Erkenntniskrise ist also das Ergebnis einer Sprachkrise."

Im folgenden Kapitel liest Eybl den "Krug" vor der Folie des Essays "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" "und dessen sprachskeptischen Einsichten". Er folgert über den Sprach- und Sprechkontext - oder, in den Worten Eybls, die "je unterschiedliche Bedeutung erzeugende Aufladung nach situativen Parametern": "Die Zeichen sind nicht mehr durch ihre Relation zum Bezeichneten bestimmt. Sie lassen sich vielmehr 'durch unterschiedliche Kombination jeweils ganz anders lesen'." Während in Huisum die Sprache der Körper falsch decodiert wird, lügen in Theben auch die Körper, vor allem "der Körper des Mannes, hinter dem sich ein Gott verbirgt", wie Eybl in Kapitel 6 nach einem knappen Rekurs auf "Intratextualität und Intertextualität" sowie auf die "Stofftradition der Komödie" zeigt.

Während in der "Marquise von O..." überraschenderweise die Schrift als jenes von Kleist in ihrer Ausdrucksfähigkeit am stärksten bezweifelte Medium am Ende obsiege, wobei der Erzähler sich zurückziehe und der Schluss offen bleibe, liest Eybl "Penthesilea" - ohne etwa auf den luziden Forschungsbericht von Birgit Hansen in der Reihe "Neue Wege der Forschung" (2003) (siehe literaturkritik.de 5/2005) einzugehen - "als Umsetzung einer geradezu mathematischen Aufgabe", als "eine Form angewandter Experimentalphysik, die in die Séancen des Mesmerismus ebenso führt wie in die Auffassung vom Magnetismus, die aber auch in der Konzeption der Verfertigung der Gedanken beim Reden steckt."

Als Drama der Verhüllungen und Enthüllungen liest Eybl "Das Käthchen von Heilbronn", wobei "einmal mehr die Verlässlichkeit der Kommunikation in Frage" stehe, "die durch das Auseinandertreten von äußerlichen Zeichen und zweifelhafter Verweiskraft auf das Innere gekennzeichnet ist."

Mit Rekurs auf Friedrich A. Kittler erscheint "Michael Kohlhaas" als Erzählung "gesprengter Regelkreise" und nicht zuletzt durch eine ",matrilineare Recodierung'" in Verbindung zur Romantik. Mag das noch einsichtig erscheinen, gilt dies für die rasch erfolgte biografische Engführung Eybls nicht in gleicher Weise: ",Die Remythisierung', zitiert Eybl Joachim Pfeiffer, 'die durch eine mütterliche Figur - die Zigeunerin - statthat, entzieht dem Vater das Wort, um die (orale) Unmittelbarkeit im Reich der Mutter wiederherzustellen.' [...] Kleist schreibt sich selbst in diese Überlieferung ein, mit dieser Problematik ebenso wie mit der Konstellation des Kohlhaas. Die Parallelen der Familie des Kohlhaas mit jener Kleists sind bekannt - die Figur hat drei Mädchen und zwei Söhne, Kleists Vater hatte in zweiter Ehe drei Mädchen und die Söhne Heinrich und Leopold. Dass die Söhne des Michael Kohlhaas Leopold und Heinrich heißen [...], macht die in der Geschichte des Rebellen gestaltete Rekonstruktion der eigenen Familie unübersehbar."

Erscheint "Die Hermannsschlacht" als radikal gestaltete "Einsicht in die Fruchtlosigkeit des aufklärerischen Diskurses, wo er politisch wirksam werden möchte", bricht Eybl den Versuch, "Prinz Friedrich von Homburg" als Drama der Überbietung mit durchaus komischen Zügen zu begreifen, leider allzu früh ab, um etwas bindungslos mit einem Epilog über "Bert Brechts Homburg Sonett" dieses zwölfte Kapitel zu schließen. Hier wie im Fall des "Kohlhaas"-Kapitels hätten vielleicht die Forschungsbeiträge von Bernd Hamacher Anschlussmöglichkeiten geboten. Im übrigen verweist Eybl in seinem "Hermannsschlacht"-Kapitel auch auf die "Phöbus"-Zeit, wobei er ausführt, Kleist habe nach der baldigen wirtschaftlichen Schieflage der Zeitschrift die Dresdner Verlagsbuchhandlung Walther zum Einspringen überreden können. Tatsächlich war es Mitherausgeber Adam Müller, der Kleist überdies die schlechten Bedingungen bis zum endgültigen Scheitern dieses Kunstjournals verschwieg.

Eybls letztes Kapitel über das "Marionettentheater" folgt in erster Linie den Lesespuren Paul de Mans, eine Lektüre, die er mit seinem Verständnis der "Cäcilien"-Erzählung als "Verhandlung gelingender und misslingender Performanz" gleichsam verlängert: "Die Verhandlung von Schrift und Geschriebenem erfolgt demnach in der Cäcilie als Verhandlung der Umsetzung, für diesmal auf der Seite der Produktion und Hervorbringung (also im Krieg und in der Kunst), was im Marionettentheater, so Paul de Man, auf Seite der Lektüre durchlaufen wird."

Trotz kleiner Kritteleien: Eybls "sanfte Dekonstruktionen", die, wie gesehen, gegen Ende mehr und mehr auf die de Man'sche Linie einschwenken, bieten "Kleist-Lektüren", die alles in allem stringent und fundiert sind und daher die anhaltende Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem Werk sicherlich weiter "befeuern" werden.


Titelbild

Franz Eybl: Kleist-Lektüren.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2007.
278 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3825227022

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