An einem Haken in Wirtshäusern und Postbüros

Hebels Kalendergeschichten in einer neuen Leseausgabe

Von York-Gothart MixRSS-Newsfeed neuer Artikel von York-Gothart Mix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bereits 1859 von Wilhelm Heinrich Riehl geäußerte Auffassung, die populären Kalender seien als 'Hausbücher des gemeinen Mannes' und als 'Spiegel der damaligen Volksbildung und Volkssitte' anzusehen, beeinflusst bis heute das Forschungsinteresse. Termini wie Volksstoff oder Volkskultur fungieren ungeachtet der kritischen Analyse Jan Knopfs als kaum konturierte Leitbegriffe regionalgeschichtlich oder volkskundlich inspirierter Forschungen. Selbst in Erika Derendingers materialreicher Studie mit dem Titel "Die Beziehung des Menschen zum Übernatürlichen in bernischen Kalendern des 16. bis 20. Jahrhunderts" werden die Termini im Rekurs auf Riehl ohne nennenswerte weitere Erläuterungen übernommen. Diese Defizite bei der lesehistorischen und rezeptionsästhetischen Analyse des Mediums sind symptomatisch für die gesamte Kalenderforschung: Abgesehen von wenigen, auf die repräsentative Quelle fixierten Ausstellungskatalogen, kleineren Quellensammlungen, den regional orientierten Untersuchungen von Katarina Masel, Derendinger, Lodovica Braida, Ursula Brunold-Bigler oder Friedrich Voit existiert bis heute keine interkulturell ausgerichtete, systematische, die neuere Methodendiskussion reflektierende Erforschung des populären Kalenders. Dieses Manko schließt auch das Fehlen von umfassenderen, genaueren, auf Autopsie beruhenden Bibliographien ein.

Die soziokulturelle Relevanz, die dem Kalender ähnlich wie der Zeitung und der Zeitschrift als kulturellem Leitmedium zukommt, ist bis heute nur in vagen Konturen bekannt. Selbst Standardwerke wie Peter-André Alts Epochenüberblick "Aufklärung" oder Friedrich Sengles Monumentalwerk "Biedermeierzeit" thematisieren die Bedeutung des Mediums kaum. Gerade die Untersuchung der Korrelationen zwischen dem Prozess der Vermittlung populärer Literatur und der Publikationsform des Kalenders, die zentrale Probleme kulturwissenschaftlicher Forschung berührt, muss als Desiderat angesehen werden. Gerhardt Petrats Untersuchung "Einem besseren Dasein zu Diensten. Die Spur der Aufklärung im Medium Kalender zwischen 1700 und 1919" greift hier aufgrund ihrer simplifizierenden geschichtsteleologischen Implikationen viel zu kurz. Als ähnlich essentielle Frage erweist sich die von Knopf thematisierte Problematik des Gattungsbegriffs Kalendergeschichte. Auffallend ist, dass die neuere historische, volkskundliche und literaturwissenschaftliche Forschung von Knopfs prinzipiell berechtigten Einwänden gegen den vagen Terminus Kalendergeschichte demonstrativ Abstand genommen hat. Auch vor diesem Hintergrund erweist sich die kulturwissenschaftlich sowie interdisziplinär ausgerichtete Diskussion und Analyse aktueller Untersuchungsergebnisse als Bedingung einer weiterführenden Erforschung des Genres.

Eine andere wichtige Voraussetzung ist die Bereitstellung der Texte. Johann Peter Hebel, unisono von Franz Kafka, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Elias Canetti und Ernst Bloch als bedeutendster deutschsprachiger Kalendergeschichtenschreiber gerühmt, 1808-1815 und 1819 verantwortlich für den von ihm redigierten "Rheinländischen Hausfreund", ist vor allem durch seine Sammlung "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" im literarhistorischen Bewusstsein präsent geblieben. Jahrzehntelang verfuhr man mit diesem literarischen Vermächtnis Hebels allerdings wie mit irgendeiner beliebigen Anthologie: Um den Absatz und die Popularität je nach Gusto und Marktkalkül zu steigern, wurden die Kalendertexte mal für spezielle Lesergruppen bearbeitet, mal zusammengestrichen oder schlicht auf indiskutable Art modernisiert. Vielfach löste man die naturwissenschaftlichen und didaktischen Beiträge heraus und druckte nur jene Geschichten in ungesicherter Textgestalt ab, die seit jeher das Interesse der Interpreten und Bewunderer Hebels auf sich zogen: "Kannitverstan" beispielweise, die Geschichten vom "Zundelfrieder" oder "Unverhofftes Wiedersehen".

Mit ihren 1980 in Tübingen und 1981 in Stuttgart publizierten Neuausgaben des "Schatzkästleins des Rheinischen Hausfreundes" haben Hannelore Schlaffer und Winfried Theiss diesem Mangel abgeholfen. Beide Herausgeber erkannten das "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" als literarische Einheit, als erzählerisches Kaleidoskop, in dem jeder Text auf seinen Kontext bezogen wurde. Von dieser programmatischen Einsicht zeigten sich auch Adrian Braunbehrens, Gustav Adolf Benrath und Peter Pfaff geleitet, die 1990 in den Bänden II und III der "Sämtlichen Schriften" Hebels die Beiträge für den "Rheinischen Hausfreund" herausgaben. Der Text dieser Ausgabe folgte den Erstveröffentlichungen im Kalender in der unveränderten Schreibweise mit ihrer eigenwilligen, den Rhythmus und die Dramatik unterstreichenden Zeichensetzung. Lediglich offenkundige Satzfehler wurden korrigiert. Ganz im Sinne des Bemühens, eine authentische Textgestalt wiederherzustellen, wurden auch die Holzstichillustrationen, jetzt knapp um ein Fünftel verkleinert, reproduziert, da sie von Hebel ausdrücklich in die Rhetorik der Kalendertexte einbezogen worden waren.

Ausgeklammert wurden in den "Sämtlichen Schriften" hingegen der als unliterarisch taxierte Kalenderteil, also die Praktika, Postlaufverzeichnisse, die Listen der Vieh- und Krämermärkte, das obligatorische Einmaleins, die Aderlasstafel, die Bauernregeln, der jüdische Kalender sowie die Tabellen mit den Repräsentanten des Herrscherhauses und die sogenannte Ordentliche Zeitrechnung. Leider konnte die für den Band IV der "Sämtlichen Schriften" Hebels geplante kritische Kommentierung der Texte des "Rheinländischen Hausfreundes" bis heute nicht erscheinen. Als Interimslösung und als handliche kommentierte Leseausgabe bietet sich jetzt der von Hannelore Schlaffer und Harald Zils im Carl Hanser Verlag edierte Band mit den "Kalendergeschichten"aus dem "Rheinländischen Hausfreund" an. Die Editionsprinzipien gleichen denen der "Sämtlichen Schriften", allerdings mit dem Unterschied, dass die Orthographie den heutigen Vorstellungen angepasst wurde. Auch die bisweilen irritierende Zeichensetzung wurde beibehalten, die drucktechnisch mediokren Holzstichillustrationen hingegen auf ein nicht mehr akzeptables Miniaturformat reduziert. Ein Appendix mit Dokumenten und Materialien zur Editions- und Rezeptionsgeschichte des "Rheinländischen Hausfreundes", ein Verzeichnis der Münzen und Maße, ein unterschiedlich ausführlicher Anmerkungsapparat und ein Nachwort ergänzen diesen Band.

Leider ist die Kommentierung der Herausgeber allerdings mitunter merkwürdig zurückhaltend ausgefallen. Über den "Hinkenden Boten", als interkulturelles Leitmedium der große Konkurrent des "Rheinländischen Hausfreundes", ein Periodikum, das bis heute weder nachgedruckt noch bibliographisch erschlossen wurde, erfährt der Leser in Hebels Überlegungen viele wichtige Details, in den sehr knappen Erläuterungen von Hannelore Schlaffer und Harals Zils jedoch fast nichts. Das ist bedauerlich, da sich an einigen Geschichten das Phänomen interkultureller Textmigration im deutsch- und französischsprachigen Kulturbereich nachweisen ließe: Geschichten aus dem "Rheinländischen Hausfreund" wurden in den "Hinkenden Boten" und seine französische Variante, den "Messager Boiteux", übernommen und umgekehrt. Der sich ganz patriotisch und alemannisch gebende "Rheinländische Hausfreund" war de facto eine bedeutende Vermittlungsinstanz zwischen den sich in der Napoleonischen Ära so national gebärdenen Kulturen.

Aber auch die strikte Beschränkung auf den sogenannten Textteil des Kalenders weckt Zweifel, da so der Eindruck von der Materialität des populären Kalenders vollständig verwischt wird. Es ist symptomatisch, dass auf dem Klappentext der Ausgabe von "Weltliteratur im Taschenformat" die Rede ist. De facto wird hier ein rezeptionsästhetischer Zusammenhang mit der Almanach- und Taschenbuchliteratur der Zeit suggeriert, der so nicht existent war: Der "Rheinländische Hausfreun" hatte ein Format von 21 mal 16 Zentimetern und hing wie eine Zeitung als Lektüre für jedermann an einem Haken in Wirtshäusern und Poststationen. Hebel selbst spricht von 700.000 Lesern des "Rheinländischen Hausfreundes". Selbst wenn diese Zahl um der Eigenwerbung willen übertrieben ist, - welcher literarische Almanach konnte eine derartige Popularität für sich reklamieren? Den Zusammenhang der Materialität kann der von Ludwig Rohner 1981 publizierte Faksimiledruck des "Rheinländischen Hausfreundes" besser veranschaulichen. Hier wird deutlich, dass selbst die als unliterarisch abqualifizierten Abschnitte aus dem literarischen Kontext nicht ablösbar sind. So wie das Verzeichnis der Messen und Krämermärkte eine Vorstellung über den Vertrieb und die Verbreitung des "Rheinländischen Hausfreundes" vermittelt, so gibt die Tabelle mit der Ordentlichen Zeitrechnung Auskunft über die von Thomas Schmidt in seinem Buch "Kalender und Gedächtnis" skizzierte Funktion des Mediums als 'Perpetuum mobile kollektiven Wissens'. Selbst die belächelte Aderlasstafel ist nicht nur als Quelle volksmedizinischer Überzeugungen von Interesse, sondern gibt auch Auskunft über die Position des Kalendermachers Hebel, wenn er hier die tradierten Regeln über den Einfluss der Gestirne unvermissverständlich als "Albernheiten" abtut. Mit einer rein semantischen Definition des Textes ist weder den Beiträgen des "Rheinländischen Hausfreundes" noch den medialen Spezifika des Kalenders schlüssig beizukommen. Der von Hannelore Schlaffer und Harald Zils edierte Band erweist sich als nützliche Leseausgabe, eine kulturwissenschaftliche Analyse des "Rheinländischen Hausfreundes" oder seines großen Konkurrenten, des "Hinkenden Boten", bleibt jedoch ein wichtiges Forschungsvorhaben, das intensive Archivarbeit erfordert.

Titelbild

Johann P. Hebel: Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes. Hrsg. v. Hannelore Schlaffer u. Harald Zils.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
736 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3446197524

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