Trostblüte

Eine Sondernummer der Literaturzeitschrift "BELLA triste" setzt Maßstäbe

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was gibt es nicht alles für Zeitschriften! "BLECH InForm" heißt zum Beispiel ein "Branchenmagazin für die Blechbearbeitung", das im Carl Hanser Verlag erscheint. Die Druckauflage beträgt stolze 13.000 Exemplare. Verkauft werden davon jedoch, das verraten die Mediadaten, nur 667; der Rest sind Freiexemplare. Dass sich dieses Unternehmen für den Verlag trotzdem rechnet, verdankt sich vermutlich der Großzügigkeit des Industrieverbands Blechumformung e.V., dem offenbar daran gelegen ist, Mitarbeiter der Branche durch Berichte wie "Der Wasserstrahl etabliert sich als Präzisionswerkzeug" mit den allerneuesten technischen Entwicklungen vertraut zu machen.

Im Literaturbetrieb gibt es Organe, deren Existenz für einen Außenstehenden genauso erstaunlich wirken mag wie diese Fachzeitschrift. Sie werden allerdings - abgesehen von wenigen Ausnahmen wie "Sinn und Form" - meist nicht von Institutionen, sondern von Enthusiasten herausgegeben. Ihre Auflagen liegen zwischen 400 ("La mer gelée", "Signum") und 3.500 Exemplaren ("Akzente"). Für den Ausgleich der bei solchen Größenordnungen unvermeidlichen finanziellen Defizite sorgen die Enthusiasten selbst, in seltenen Fällen Mäzene, oft die öffentliche Hand, hier und da auch Verlage wie Hanser bei den "Akzenten" und S. Fischer bei der "Neuen Rundschau".

Im Herbst 2001 hat sich eine "Zeitschrift für junge Literatur" mit dem eigentümlichen Namen "BELLA triste" erstmals zu Wort gemeldet und sich dann sehr zügig einen der höchsten Plätze in der Aufmerksamkeitsskala der Literaturbetriebsbeobachter gesichert. In kürzester Zeit schloss sie in der Wertschätzung zur seit 1993 erscheinenden "EDIT" auf, dem "Papier für junge Texte" aus Leipzig, das unlängst mit seiner Doppelnummer 40 eine sehr beeindruckende "Leistungsschau" präsentierte.

Diese Doppelnummer war den Machern von "BELLA triste" vermutlich ein Ansporn, nicht nur mitzuhalten, sondern noch eins draufzusetzen. Mit der soeben erschienenen Nr. 17, einer Sonderausgabe zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik, stellen sie jedenfalls alles in den Schatten, was man an der "BELLA triste" bislang schon so sehr geschätzt hat. 217 Seiten umfasst das Heft. Das ist das Dreifache des Umfangs, den man sonst geboten kommt, das alles zum Spottpreis von 8 Euro.

Würde die neue "BELLA triste" allein Gedichte junger Autoren präsentieren, müsste man davon noch kein großes Aufhebens machen. Denn an Foren für junge Lyrik mangelt es zur Zeit wirklich nicht. Außerdem handelt es sich bei den meisten Texten noch nicht einmal um Erst-, sondern um Nachdrucke. Den Herausgebern ging es aber nicht um eine brandaktuelle Novitätenschau (dafür gibt es schließlich Christoph Buchwalds "Jahrbuch der Lyrik" und die von Anton G. Leitner herausgegebene Zeitschrift "Das Gedicht"), sondern darum, ein Gespräch über junge Lyrik unter Autoren zu initiieren. Denn der öffentliche Austausch, gar der Streit über Maßstäbe des lyrischen Ge- oder Misslingens kommt seit langem viel zu kurz. Es gab zwar immer wieder Versuche, eine Diskussion über zeitgemäße Kriterien zu entfachen, etwa von Franz Josef Czernin, der im Mai 1995 im "Schreibheft" Nr. 45 zu einer detailgenauen Kritik an der büchnerpreisprämierten Lyrik von Durs Grünbein ausholte. Aber damals antwortete Grünbein nur mit einer ziemlich verschnupften und abschätzigen Replik, einige wenige Kommentare plätscherten hinterher, und das war es dann auch schon. Leider.

Inzwischen gibt es im Internet mit www.lyrikkritik.de ein Forum für eine Auseinandersetzung über zeitgenössische Gedichte. Dort kann man zwölf Beiträge aus der neuen "BELLA triste" auch nachlesen. Aber das macht die Sondernummer noch nicht überflüssig, im Gegenteil. Denn im Wettbewerb um Aufmerksamkeit bietet eine Zeitschrift ganz andere Möglichkeiten als eine Seite im Netz, und die Macher der "BELLA triste" nutzen diese Möglichkeiten so beharrlich wie zielstrebig. Sie wissen: Auch Gegenwartsliteratur braucht Marketing. Daher zieht "BELLA triste" seit der Nr. 1 mit einem gezeichneten Covergirl von Silke Schmidt als unverwechselbarem Markenzeichen die Aufmerksamkeit auf sich, wird stets sorgfältig und ansprechend gestaltet (diesmal von Julian Zimmermann) und auf diversen Veranstaltungen vorgestellt, sei es in Hildesheim, wo die Redaktion ihren Sitz hat, sei es auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt.

Das Editorial der Sonderausgabe verspricht: "Nichts soll bewiesen, vieles gezeigt werden." Und so werden zunächst von Nico Bleutge bis hin zu Henning Ziebritzki 14 Lyrikerinnen und Lyriker mit jeweils drei Gedichten vorgestellt, die dann 14 weitere Schriftstellerkolleginnen und -kollegen kommentieren. Das geschieht mitunter streitbar und ist lehrreich selbst dann, wenn die Anmerkungen nicht ganz befriedigend sind.

Brigitte Oleschinski etwa be- und umschreibt Ron Winklers Gedichte lediglich. Man sieht hier wie auch bei Raphael Urweiders Kommentar zu den Gedichten von Steffen Popp und Kathrin Schmidts Anmerkungen zu Gedichten von Monika Rinck die Gefahren, die lauern, wenn Lyriker ins Metier der Lyrikkritik oder -interpretation wechseln. Sie neigen leicht zu Korpsgeist und einer Beißhemmung, die im besseren Fall der amalgamierenden Anverwandlung, im schlechteren nur einem Plaudern, nicht aber einem weiterführenden Gespräch über Lyrik förderlich ist.

So lobt Oleschinski das Wort "Trostblüte" als "starke Bildung" und hätte besser daran getan, erst seiner Herkunft nachzuforschen. "Trostblüte" ist nämlich die Bezeichnung für die neunundzwanzigste der insgesamt 38 "Bachblüten". Sie trägt auch den Namen "Star of Bethlehem (Doldinger Milchstern)" und soll eine "leichtere Erlebnisarbeit" bei einer "seelischen Negativhaltung" ermöglichen. Wenn man das weiß (oder ermittelt hat), erschließt sich erst der ganze Witz der ersten beiden Verse in Winklers Gedicht "Anruf von weiter oben im Stammbaum": "selbstverständlich kannst du ein Weltall haben. oder / nimm zwei. als Trostblüte oder gleich als Vizesituation".

Im Gegensatz zu Oleschinski zeigt Nicolai Kobus, wie sich durch ein wenig Recherchieren Rätselhaftigkeiten in Gedichten von Nora Bossong als höchst reizvolle semantische Ambiguitäten entpuppen. Und am Ende weiß man gar nicht mehr, wen man mehr bewundern soll: Bossong für ihre Lyrik oder Kobus für seine genaue, kongeniale Lektüre.

Ulrike Draesner ist dagegen ungnädig: Sie assoziiert zu den Gedichten Anja Utlers eine Farbe, die gar keine ist: grau. Sie moniert eine "abgegriffene Reimfolge" wie "gestein / ein / sein / nein" und erkennt auf beträchtliches "Kitschpotential", lasse man nur probeweise einmal die Interpunktion außer acht. Draesners Urteil ist hart, kompromisslos ehrlich und demonstriert die einzig angemessene Haltung zur Gegenwartslyrik, ja zur Literatur überhaupt: Sie ist sachbezogen, nicht geschmäcklerisch, und sie argumentiert wie Kobus nah am Text. Es geht ihr nicht um Betriebskuscheln, sondern um eine Auseinandersetzung über Geltungsansprüche, die mit jeder Veröffentlichung verbunden sind. Nur so nimmt man Literatur tatsächlich ernst.

Draesner findet aber auch Widerspruch. Alexander Nitzberg nutzt seinen Essay über die Lyrik Norbert Langes nicht nur zu plumpen Seitenhieben gegen "professorale FAZ-Fritzen" (womit nur Harald Hartung gemeint sein kann) und "nach Worten kramenden Sybillen" (er denkt wohl an Sibylle Kramer), sondern auch zum Seitenblick auf Utler: Nirgends als bei ihr finde sich sonst auf derart schmalem Raum "eine solche Phonetik". Einen Beleg für diese (ohnehin etwas diffuse) Behauptung bleibt Nitzberg jedoch schuldig.

Norbert Hummelt lässt sich in seinen Anmerkungen zur Lyrik von Lars Reyer zu einer polemischen Stichelei gegen Steffen Popp und dessen Lyrikdebüt "Wie Alpen" aus dem Jahr 2004 hinreißen: "Sie kommen prima ohne Alpen und Meer über die Runden", lobt er Reyers Gedichte. "Konstruierte Metaphern" und "Effekte des Surrealen" hätten derzeit Konjunktur, deshalb müsse man diesen Mitteln mit Skepsis begegnen. Diese Begründung ist dürftig, denn im Gegenzug lobt er lediglich eine andere Konjunktur: die des Erzählens in den Gedichten Reyers und "vergleichbarer lyrischer Projekte" von Jürgen Becker und Lutz Seiler. Hier werden Fronten nur errichtet, gewinnen aber mangels argumentativer Grundierung keine scharfe Kontur. Und man kann sich auch nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass Hummelt auf Popp im Moment schlecht zu sprechen ist, weil der vor kurzem seine "Vernissage" mit Poemen von sechs Studenten des Leipziger Literaturinstituts (darunter auch Reyer) beherzt verrissen hat (siehe www.lyrikkritik.de).

Abgesehen von solchen Scharmützeln, die vor allem Animositäten erkennen lassen und kaum sachliche Gründe, präsentiert das "BELLA triste"-Sonderheft ein abwechslungsreiches lyrisches Panorama, gepaart mit einem munteren Für und Wider. Es wird um einen zweiten Teil vermehrt, in dem sich drei Autoren der Rezension der vorangegangenen Beiträge widmen. Hendrik Jackson unternimmt eine zeitgenössische Standortbestimmung des kritischen Sprechens über Lyrik und befindet: "Erbitterte Richtungsstreits gehören anderen Zeiten an. Hier finden sich konträre Standpunkte." Das ist natürlich versöhnlerisch auf Hummelt und Popp gemünzt und auch im weiteren mehr an den Insider adressiert als an den Common reader. Denn ein Novize im gegenwartslyrischen Milieu kann es nur als Betriebsrauschen abhaken, wenn unvermittelt von "einer Kieferschen Polemik" gesprochen und nicht wenigstens kurz erläutert wird, wer Sebastian Kiefer ist und was er treibt.

Henning Ahrens macht sich Gedanken über generationelle Unterschiede in den Bewusstseinslagen und zeigt sich erstaunt über "die Renaissance der Naturlyrik". Er hätte freilich auch auf Ulrike Draesners erhellenden und weiterführenden Essay zu diesem Thema hinweisen sollen, der bereits in "Bella triste" Nr. 11/2005 veröffentlicht wurde (in erweiterter Fassung findet er sich auch in der gleichfalls empfehlenswerten, im vergangenen Jahr erschienenen Nr. 171 der Zeitschrift "Text + Kritik", die sich ebenfalls der "Jungen Lyrik" widmet).

Franz Josef Czernin schließlich entfaltet die grundsätzlichen Schwierigkeiten einer angemessenen Lyrikrezeption und fragt: "Ob übrigens nicht so viele von uns gar nicht gerne Gedichte lesen, weil wir, bedingt durch ihre ungewohnte und erschwerte Sprache, uns dazu aufgerufen fühlen, jene Dimensionen [gemeint sind: Syntax, Musik, Regeln des Verses, Sinn, Takt] und ihre Elemente so sehr auseinanderzuhalten, dass wir uns und das Gedicht nicht mehr als Ungeteiltes erfahren können?" Czernin zeigt Verständnis für eine romantische Sehnsucht nach einer "ganzheitlichen Wahrnehmung", gibt ihr aber nicht nach, betont vielmehr die Notwendigkeit analytischer Durchdringung. Der Gegensatz zwischen ganzheitlicher Sehnsucht und der Notwendigkeit der Analyse lasse sich nicht aufheben, sondern nur durch das "Erfassen des Prozesses der Vereinigung und Trennung der Dimensionen und ihrer Elemente" fruchtbar machen. Danach folgen Notizen zum ersten Teil des Heftes, die krankheitsbedingt fragmentarisch geblieben sind, aber auch in ihrer Bruchstückhaftigkeit noch eine ungemein instruktive Lektion bieten, wie Lyrik mit Gewinn zu lesen sei und wie nicht.

Das Heft beschließen drei poetologische Reflexionen. Ann Cotten nimmt eine weithin grassierende lyrische Sentimentalität aufs Korn, die sie an das Aquarellieren von höheren Töchtern in vergangenen Jahrhunderten erinnert, "nur dass es vielleicht heute eher sensible junge Herren sind, die damit bei depressiven Mädchen ankommen wollen, und vice versa". Wie man Kitsch zeitgemäß drapieren kann, demonstriert sie wundervoll an Versen wie "Regengüsse, ein Fallobst, der letzte Mensch / bleibt Frucht auf weiter Flur und immer nass", deren bloß kaschierte Konventionalität sie durch eine einfache Transformation entlarvt: "Ich bin so traurig und allein / niemals werd ich glücklich sein". Ihre Überlegungen steuern dann auf eine radikale Kritik an Sprachbildern zu. In "weiten Bereichen der Lyrikproduktion" würden "einfach nur Metaphern vorgeführt und nachvollzogen", was bestenfalls eine "nette Gesellschaftsunterhaltung" sei. Sie zollt Czernins unermüdlichen und strengen Sondierungen des Verhältnisses von wörtlichem und bildlichem Sprachgebrauch Respekt, bekennt aber freimütig, das lustvolle "herumbricolieren" Ulf Stolterfohts läge ihr mehr. Und daher wundert man sich auch nicht, dass sich Ann Cotten schlussendlich auf Friedrich Schiller und dessen Apologie des Spiels beruft: Wahrer Ernst sei nur dort, wo er spielerisch, relativistisch, experimentell und autoreflexiv daherkomme.

Der gerade gepriesene Ulf Stolterfoht klärt dann nochmals auf andere Weise, was den Graben zwischen Konvention und Experiment ausmache und warum er unüberbrückbar sei. Das Experimentelle ist für ihn, was es schon für Reinhard Priessnitz war: weniger eine Methode als eine Haltung: "Experimentelle Lyrik als die Form 'realisierter Freiheit' (Ernst Jandl), die aus sich selbst heraus jeden methodischen Zwang zurückweisen muss - und letztlich wohl auch einen Aufsatz wie diesen." Es fehlt nicht viel, und auch Stolterfoht landete wie seine Vorrednerin bei Schiller und dessen "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen". Da sage noch einer, die Klassiker seien antiquiert und verstaubt!

Zum Schluss widerspricht Uwe Tellkamp in seinen "Notizen zum Gedicht von heute" drei Thesen des stets thesenfreudigen Raoul Schrott. Erstens gebe es, anders als Schrott habe glauben machen wollen, nirgends eine extensivere Auseinandersetzung mit der internationalen Lyrik als in der deutschen. Zweitens wisse er eine ganze Menge Verse zeitgenössischer Lyrik auswendig (Schrott hatte bestritten, dass so etwas vorkomme). Und drittens sei das handwerkliche Können zum Teil enorm (auch das hatte Schrott in Abrede gestellt). Tellkamp unterfüttert seine Gegenrede mit vielen Beispielen, um dann am Ende selbst eine These zu formulieren: Anders als von den Romanen der Gegenwart werde von der Lyrik, "dem Stiefkind der Rezensenten, der Buchhändler, schließlich der Leser", manches bleiben. Er nennt als "Beispiele von vielen" vier Namen: Friederike Mayröcker, Lutz Seiler, Thomas Kling und Oswald Egger.

Raoul Schrotts defätistisch gestimmte Schelte der zeitgenössischen Lyrikproduktion wird aber nicht nur durch Tellkamp, sondern durch diese Sonderausgabe der "BELLA triste" insgesamt widerlegt. Bei aller Kritik, die man an einzelnen Beiträgen üben kann, bietet sie eine äußerst ergiebige Mischung aus intellektuellem Scharfsinn, detailgenauen Beobachtungen, polemischen Zuspitzungen, Formulierungswitz und Mut zur Kontroverse. Bitte mehr davon. Und nicht erst in zehn Jahren.


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BELLA triste. Zeitschrift für junge Literatur. Frühjahr 2005.
Herausgegeben von Lin Franke, Florian Kessler, Matthias Karow, Thomas Klupp und Wiebke Späth.
Bella Triste, Hildesheim 2005.
71 Seiten, 4,00 EUR.
ISSN: 16181727

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BELLA triste. Zeitschrift für junge Literatur, Nr. 17 / Frühjahr 2007 Sonderausgabe zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik.
Herausgegeben von Martin Bruch, Lin Franke, Matthias Karow, Florian Kessler, Martin Kordic und Stefan Mesch.
Bella Triste, Hildesheim 2007.
217 Seiten, 8,00 EUR.
ISSN: 16181727

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