Bewegende Familiensaga

Andrew O´Hagan erzählt ein Stück schottische Sozialgeschichte

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jamie Bawns Leben in Liverpool hat keine Berührungspunkte mehr mit seiner schottischen Kindheit und Jugend. Sämtliche Brücken sind abgebrochen. Er hat weder Kontakt zu dem verhassten Vater, der mit seiner Trunksucht ihm und seiner Mutter das Leben zur Hölle gemacht und die Familie zerstört hat, noch zu seiner Mutter. Aber auch zu seinen Großeltern, bei denen er als Kind Zuflucht vor den erbärmlichen Verhältnissen seines Elternhauses fand, ist jede Verbindung abgerissen. Die Vergangenheit holt ihn ein, als sein Großvater im Sterben liegt und ihn zu sich bittet. Jamie folgt dem Wunsch des Sterbenden. Sein Aufenthalt bei ihm wird eine Reise in die Vergangenheit, zu seinen eigenen Wurzeln und zu denen seines schottischen Volkes.

Die Klammer zwischen Geschichte und individuellem Schicksal ist die schillernde Persönlichkeit des Großvaters. Hugh Bawn war in den 50er Jahren ein Held des sozialen Wohnungsbaus. Als Leiter eines groß angelegten Wohnungsbauprogramms leitete er in Glasgow den Abriss ganzer Wohnviertel und ersetzte sie durch Hochhaustürme. Was als Traum von Gerechtigkeit und humanen Wohnverhätnissen begann, muss bereits vier Jahrzehnte später als gescheitert betrachtet werden. Die gigantischen Hochhäuser entpuppen sich als unwirtliche Behausungen, die durch schlechte Bausubstanz und undurchdachte Planungen Horte von Vandalismus und Kriminalität sind und schließlich nach und nach abgerissen werden. Ihr geistiger Urheber muss am Ende seines Lebens mit ansehen, wie er selbst und sein Lebenswerk in Misskredit geraten. Jamie erlebt den körperlichen Verfall und sozialen Abstieg des einst geliebten und verehrten Großvaters aus nächster Nähe mit. Als einer der wenigen weiß er um die Unhaltbarkeit der öffentlichen Vorwürfe. Das Versagen des Großvaters, so erkennt der Enkel in diesen letzten Wochen des Abschieds, liegt auf anderer Ebene, und obwohl auch für ihn somit das ungebrochene Bild des Helden seiner Kindheit fällt, gewinnt die Persönlichkeit des Großvaters. Jamie wird offen für seine Welt, sein Denken, seine Fehler und findet zu der verlorenen Achtung für ihn zurück. Der Prozess der Wiederannäherung an seinen Großvater führt ihn ebenso in die dunkelsten Winkel seiner Kindheit. Auch dabei überlappen sich historische Einblicke mit Episoden aus dem persönlichen Bereich. Somit ist Andrew O´Hagans "Dunkles Herz" nicht nur eine bewegende Familiensaga, sondern gleichzeitig ein Stück schottischer Sozialgeschichte.

Der Autor verfügt über die Mittel des modernen Erzählens. Der Roman wechselt souverän die Perspektiven. Er ist eine Mischung aus auktorialer und Ich-Erzählung. Die einzelnen Kapitel springen zwischen verschiedenen zeitlichen Ebenen, und erst nach und nach entsteht die Ahnung eines vollständigen Bildes. Gleichzeitig wird dadurch der Aspekt der Suche nach Vergangenheit und persönlicher Wahrheit unterstrichen. Die poetische Sprache lässt Farben und Gerüche unterschiedlichster schottischer Landschaften lebendig werden und fängt die Stimmungen in den verschiedenen Lebensbereichen ein. O´Hagan bringt uns einem Land näher, das wir bisher literarisch wenig bereist haben.

Titelbild

Andrew O'Hagan: Dunkles Herz. Aus d. Engl. v. Barbara Christ.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000.
317 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3455057306

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