Sprachgeschichte als Menschheitsgeschichte

Haarmanns Weltgeschichte der Sprachen

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem neuen Buch erzählt der aus Deutschland stammende, in Finnland lebende, schon vielfach ausgezeichnete Sprach- und Kulturforscher Harald Haarmann in allgemein verständlicher und zugleich wissenschaftlich fundierter Weise die Geschichte des Sprechens und der Sprachen. Die thematische Spannweite reicht von Hypothesen über die Sprachentstehung und die Rolle der Sprache in der Evolutionsgeschichte des Menschen bis zum Erreichen der modernen Sprachenvielfalt und ihrer Typologie.

Und weil Haarmann die Geschichte der Sprachen in die Menschheitsgeschichte und diese in die Erdgeschichte einordnet, wird beiläufig klar, wie trivial der gegenwärtige Klimawandel sub specie aeternitatis ist. Haarmann erklärt, wie Sprachen die Lebenswelt ihrer Sprecher reflektieren, etwa die Ausdifferenzierung der Bezeichnungen für Rentiere bei den Saamen in Lappland oder für Kamele bei den Somali in Ostafrika. Aus den Migrationen des Menschen aus Afrika und von Kontinent zu Kontinent leitet er die Ausgliederung der modernen Sprachfamilien ab. Er beschreibt den sprachgeschichtlichen Atavismus des Baskischen, der einzigen nicht nur vorrömischen, sondern vorindoeuropäischen Sprache, die sich in Europa erhalten hat; die anderen nichtindoeuropäischen Sprachen Europas, wie das Ungarische, Finnische und Estnische; und das sprachgeschichtliche Konstrukt des Nostratischen als ältester Urfamilie, die am Ende der letzten Eiszeit entstanden sein und die meisten Sprachfamilien und Sprachen Europas und Asiens umfassen soll.

Dass er die indoeuropäischen Sprachen am genauesten darstellt und zum Vergleich und zur Erklärung immer wieder Bezug auf das Deutsche nimmt, ist immer wieder hilfreich. Aber auch dem Gotischen, einer in der Spätantike über ganz Europa verbreiteten Sprache, oder dem Lateinischen und der Ausgliederung der romanischen Sprachen, widmet er besonders informative Kapitel.

Die letzten Kapitel sind den Verschriftungssystemen und der globalen Geltung der Lateinschrift sowie den "Nachzüglern der Neuzeit: Pidgins und Kreolsprachen" gewidmet. Schließlich stellt Haarmann auch Überlegungen zu "Gegenwart und Zukunft der Sprachen" an, wobei er betont, dass in Europa, verglichen mit anderen Kontinenten, die wenigsten Sprachen gesprochen werden, diese aber zu den meistverbreiteten der Welt gehören. Die Bedeutung des Englischen relativiert er mit dem Hinweis, dass das Chinesische jetzt schon und das Hindi demnächst mehr Sprecher habe - als könnte der Vorsprung des Englischen noch aufzuholen sein. Haarmann ist ein großartiges Buch gelungen, in dem er die neuesten Erkenntnisse der Sprachwissenschaft und Anthropologie miteinander verknüpft und seinen flüssigen Erzählstil durchhält. Da Anders- und Mehrsprachigkeit in den modernen westlichen Gesellschaften Alltagserfahrungen geworden sind, könnte diese "Weltgeschichte der Sprachen" zum Bestseller werden.


Titelbild

Harald Haarmann (Hg.): Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
400 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3406551203
ISBN-13: 9783406551208

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