Supermario, der Zauberer

In Xaver Bayers Roman "Weiter" fusionieren Literatur und Ego-Shooter

Von Ole PetrasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ole Petras

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eltern, die sich an den Computer setzen, um - wie jüngst die "Zeit" forderte - selbst herauszufinden, was sie ihren Kindern da eigentlich verbieten, können ab sofort auf das altvertraute Medium Buch zurückgreifen. Xaver Bayer liefert ihnen mit "Weiter" einen intimen Blick hinter die Kulissen des Cyberspace.

Der bereits dritte Roman des 1977 geborenen Österreichers, erschienen im Verlag Jung und Jung, schildert die Reise des namenlosen Redakteurs eines Computerspiele-Magazins ins tschechische Brno (Brünn). Ziel des Ausflugs ist es, einen Programmierer (einen Namensvetter des amerikanischen Hackers Patrick Kroupa) zu dessen neu entwickeltem ,Game' zu befragen. Der Ich-Erzähler trifft nur die Schwester Kroupas an, führt das Interview mit ihr, und macht sich, nach durchzechter Nacht, auf den Heimweg. Mehr ist eigentlich nicht passiert. Allein das Wie der Erzählung, die hörbaren Verweise auf Gottfried Benns "Gehirne" und Kafkas "Verwandlung", sowie eine leichte Schlagseite in Richtung Chamissos "Peter Schlemihl", sorgt dafür, dass aus der alltäglichen Handlung ein Roadtrip psycho-pathologischen Ausmaßes wird, ein seelisches Autorennspiel, oder vielleicht nur: ein Autorenspiel, das die Grenzen der Vorstellung in den Grenzen des Textes offenbart.

Geradezu reißerisch setzt die Geschichte mit der Entwendung eines historischen Faustkeils ein. Der rastlose Held wird ihn nicht benutzen können, genauso wenig wie die anderen Gegenstände, die er im Laufe des als Adventure konzipierten Romans aufliest. Textinterner Ausgangspunkt dieses jegliche Transition verweigernden Stationen-Dramas ist ein im Verlauf des Buches mehrmalig erinnertes Initialerlebnis auf einer Parkbank. Der dort erlittene "Verlust der Sehnsucht" aber entpuppt sich bei näherer Betrachtung als tendenzielle Bewusstwerdung einer Spielsucht. Soziale Kontakte werden als Auffüllen der "Reservoirs 'soziale Nähe' und 'Spaß'" beschrieben, das Eintauchen in die virtuellen Welten ist nicht mehr als ein "automatisches Sich-Hochleveln oder mechanisches Weiterklicken". Der Text illustriert diesen emotionalen Autismus unter anderem durch ein notorisches Sichtbarmachen seiner poetischen Verfahren. Fast jedes Bild wird Zeilen später als solches erklärt. "Es muss ja nicht immer alles geheimnisvoll sein, habe ich gedacht", heißt es, kurz nachdem die Einrichtung einer Kneipe als "ungeheimnisvoll" erkannt wurde. Die Redundanz hat Methode. Derart häufig zieht der Text Vergleiche zwischen der Matrix des Spiels und der Wahrnehmung des Protagonisten, dass sich schämt, wer selbst nicht simuliert: "Ich stelle mich an ein Urinal, so wie man eine Spielfigur dahin platzieren würde", bemerkt die Hauptfigur, " verrichte mein Geschäft, bis der Pegel der Bedürfniswerte wieder im grünen Bereich ist."

Die Etappen der Reise rauschen vorbei, einzig die große Frage des Was-wäre-wenn strukturiert das Geschehen: "Als würde die Musik durch große Trichter rutschen, die wie Blüten aus ihr selbst sprießen. Und das Einfahren in die Stadt Brno ist so ein ähnliches Hineinrutschen gewesen, ein Hineinschlittern und Hineingerissenwerden, nahezu widerstandslos." Genau diese Affinität zum Gedankenspiel ist es, die im Gegensatz zur landläufigen Vernunft steht und damit das eigentliche Problem emuliert. So hat die prononcierte Wende im Leben der Figur, der Neustart mittels Druck der Tasten alt+strg+entf, schlicht nicht stattgefunden, oder harrt noch der Entdeckung.

Einer Eingebung folgend erreicht unser Held das Haus seiner Großeltern und trifft dort auf seinen Bruder Veit. Vorgestellt wird dieser als dauer-bekiffter Dichter, dem nach einem Überraschungserfolg nichts Rechtes mehr gelingen will. "Dann kündigte er an, wenn überhaupt noch ein Buch, dann nur ein Buch über den Literaturbetrieb schreiben zu wollen, ein Zornlesebuch", welches natürlich nie zustande kommt. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der schematischen Zeichnung dieses Außenseiters gewinnt Bayers Buch eine neue Verve. Der Text verwendet auffällig viel Mühe darauf, die Begegnung mit dem nahen Verwandten anschaulich zu machen. So haust dieser in einem Kindertraum von Baumhaus, dessen Wände mit Relikten einer offenbar überwundenen Populärkultur geschmückt sind. Immer wieder unterbrechen Rückblenden auf eine glückliche Jugendzeit den Lauf der Geschichte. Der Diebstahl einer Notiz Veits eröffnet eine Art Spannungsbogen, der bis zum Ende des Buches aufrecht erhalten wird. Noch signifikanter als Projektionsfläche des (ehemaligen) Spielsüchtigen erscheint die Figur des Bruders in Hinblick auf eine Problematisierung der Schwellen des Textes.

Unter seinen Lektüren befinden sich, neben Sloterdijk, Pessoa und "Hitlers Tischgesprächen", auch "Gedichte von Xaver Bayer", welcher sich auf diese Weise wenig subtil in seinen eigenen Roman schummelt. Fortwährend begegnen uns nun derartige paratextuelle Strategien, die, wenn auch nicht auf den Menschen Bayer, so doch auf seine Rolle im Betrieb verweisen. In dem Verschlag des Bruders hängen "eine Reihe von Passfotos, die Veit anscheinend im Lauf der Jahre von sich in Automaten gemacht und gesammelt hatte." Auf der hinteren Umschlagklappe des vorliegenden Buches also präsentieren sich vier solcher Bilder des Autors, der mit skeptisch gelupften Brauen in die Kamera blickt. Es geht weiter: Die mysteriöse Notiz, welche die Hauptfigur im Haus der Großeltern gestohlen hatte, bildet den Schluss des Romans, und lässt ihn mit einem Doppelpunkt enden. Zitiert sei hier nur der letzte Satz, eine fast wörtliche Beschreibung des Baumhaus-Interieurs: "An den Wänden Kinderzeichnungen und Wörter eingeritzt, manchmal noch Überreste von Fresken, der Großteil von ihnen mit Slogans übermalt, ein jeder von ihnen ein Tor in eine andere Welt:" Was nun folgt, ist keineswegs der Fantasie des Lesers überlassen und lädt nur bedingt zur neuerlichen Lektüre des Buches ein, sondern besteht, gemäß des Programms des Wiener Verlags, aus zwei Annoncen für die früheren Bücher Xaver Bayers, "Heute könnte ein glücklicher Tag sein" und "Die Alaskastraße".

Auf dieser Ebene greift auch die Inszenierung der übrigen Geschichte. Indem die Literatur als "Tor in eine andere Welt" genauso problematisch wird, wie es die Computerspiele schon lange sind, restituieren beide ihr kritisches Potential. Insofern die Fähigkeit des Sich-Vorstellens als Grundlage der Urbarmachung von Welt wirkt, entfaltet der Text eine seltsam versöhnliche Sicht auf alles Lebendige, Suchende, Irrende. Die große Stärke des Romans besteht in seinem undogmatischen Standpunkt unter anderem gegenüber aktuellen Debatten um Killerspiele und derlei Schreckgespenste. In der Literarisierung des Problems wird dieses vom Kopf auf die Beine gestellt. Denn genauso wie es in Thomas Manns Novelle fraglich bleibt, ob Mario unrecht handelt, wenn er den Zauberer niederschießt, oder dieser durch seine Hypnose und die Bloßstellung Marios den eigentlichen Aggressor darstellt, findet Bayer nur Grundkonstellationen menschlichen Verhaltens vor. Und so gehört wohl auch die zeitweilig mühevolle Lektüre zum Tutorial dieses klugen, schwierigen und faszinierenden Buches.

Dem ergebnisorientierten Leser sei mit auf den Weg gegeben, dass zwar der Eskapismus zu nichts führt, die Alternativen aber auch nicht gerade Schlange stehen. Alle anderen mögen einen Blick auf das schön gewählte Cover des Buches werfen. Es zeigt ein Bild des vom Fluchtpunkt nahezu besessenen Künstlers David Schnell aus Leipzig. Der lapidare Titel des Gemäldes lautet: "Verschlag". Dargestellt ist ein rechteckiger Tunnel aus unsauber gesetzten Planken. Das Laub bricht durch die Fugen.


Titelbild

Xaver Bayer: Weiter. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2007.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783902497123

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