Komplexer als ein Wirtshaus

Arno Geiger spricht über das Problem, einen Roman über das Familienleben zu schreiben

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Matthias Prangel: Sie stammen aus Wolfurt, einer kleinen Gemeinde im Vorarlberg, ganz in der Nähe von Bregenz. Was für ein Milieu war das, in dem Sie dort aufgewachsen sind? Wie sah die soziale Einbettung aus? Und war das ein guter Wind in Ihren schriftstellerischen Segeln oder wehte Ihnen der Wind von vorne ins Gesicht?

Arno Geiger: Wolfurt ist tatsächlich ein Kuhdorf. Ich habe das Dorf zumindest so empfunden, obwohl es eine flächenmäßig sehr große Gemeinde ist. In dem Moment, in dem man aus dem Haus trat, hatte man schon über den ersten Zaun zu springen und dem ersten Kuhfladen auszuweichen. Für mich war es weder das eine, noch das andere, kein besonders guter, aber auch kein schlechter Wind. Aber in Vorarlberg gibt es keine Universität, und ich musste also zum Studieren von zu Hause weg in so eine exilartige Situation. Und das würde ich im Nachhinein als ein recht prägendes Erlebnis bezeichnen. Ich ging als einer der ganz wenigen oder sogar als einziger von der Schule nach Salzburg. Es hat mich dort niemand gekannt, und man hat mich auch nicht recht verstanden, weil ich mein Leben lang nur Dialekt gesprochen hatte, wodurch ich schwer Anschluss fand. Ich begann Jura zu studieren, also nichts, was irgendwie mit der Literatur zu tun hatte. Aber ich begann auch sogleich in meiner freien Zeit zu Hause - ich wohnte bei einer alten Dame zur Untermiete - einen Roman zu schreiben. Das war die "Kleine Schule des Karussellfahrens", an der ich acht Jahre gearbeitet habe. Am Anfang sah das noch sehr unbeholfen aus. Der Roman wurde dann aber zwanzig oder dreißig Mal neu geschrieben und immer wieder von vorne begonnen und überarbeitet und schließlich war er 1995 mein Debut.

M.P.: Sie haben also geschrieben, bevor Sie sich dann im Studium auf die Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Geschichte eingelassen haben. Die Universitäten sehen es häufig mit einer gewissen Skepsis, wenn Studenten zu ihnen kommen, die selber literarische Ambitionen haben und sich vom Literaturstudium die entscheidenden Impulse versprechen. Die Reaktion ist oft, man sei ein literaturwissenschaftliches Institut und keine Schriftstellerschmiede. Wie war das bei Ihnen, hatten Sie zunächst auch noch irgendwo Berufswünsche in Richtung Literaturwissenschaft?

A.G.: Nein, überhaupt nicht. Mir war relativ schnell klar, dass ich schreiben will. Ich hätte das aber nie jemandem erzählt. Weder den Dozenten, noch den Kommilitonen, obwohl uns untereinander schon klar war, es schreiben von zehn Germanisten mindestens elf.

M.P.: Natürlich. Es gibt ja mit zum Beispiel Walser, Enzensberger, Delius, allesamt promovierte Germanisten, schon unter den Älteren berühmte Beispiele, und es hat sich das bei den Jüngeren nicht geändert.

A.G.: Ich brauchte damals einfach Zeit und musste mich zu Hause mit dem Studium rechtfertigen. Da war die Literaturwissenschaft ein sehr geeignetes und sinnvolles Alibi, bei dem ich viel gelernt habe. Es ist wie beim Verhältnis von Kommissar und Kriminellem. Dort ist es auch von Vorteil, wenn der Kriminelle die Seite des Kommissars kennt, will er ein guter Krimineller werden.

M.P.: Doch zu Ihrem Roman "Es geht uns gut", für den Sie den Deutschen Buchpreis des Jahres 2005 erhalten haben und mit dem Sie in der Tat bewiesen haben, ein guter Krimineller geworden zu sein: Dieser Roman ist eine Familiengeschichte. In der deutschen Literatur wimmelt es von solchen Familiengeschichten, fiktionalen wie nichtfiktionalen, geradezu. Das gilt insbesondere auch für die allerletzten Jahre: Wiebke Bruhns, Ute Scheub, Dagmar Leupold, Sie und noch viele andere. Der theoretische Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist uns heute natürlich ganz geläufig. In der schriftstellerischen Praxis, wissen wir andererseits, sind dennoch beide ganz innig und manchmal schwer trennbar miteinander verquickt. Die fikionale Literatur kann unmöglich auf die Tatsachen der realen Welt verzichten, und umgekehrt ist zum Beispiel die Geschichtsschreibung allein schon auf Grund ihrer narrativen Struktur und ihrer Selektionsnotwendigkeiten weitgehend auch ein fiktionales Erzeugnis. Wie nun wird dieses Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit bei Ihnen generell und insbesondere in diesem Roman ausgelotet?

A.G.: Wenn jemand einen Familienroman schreibt, wird es selbstverständlich auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung. Auch, weil es immer gut ist, wenn man über das schreibt, wovon man etwas versteht. Ganz prinzipiell bin ich ein großer Verfechter des fiktionalen Schreibens. Denn das fiktionale Schreiben kann alles, was die Historie auch kann, es kann also dokumentarisch sein, wo es dokumentarisch sein will. Es kann aber noch sehr viel mehr. Es kann imaginieren und transformieren und ist ein Geschenk an den Autor, weil es dem Autor die Möglichkeit gibt, mit Distanz über die Dinge zu schreiben. Wenn ich autobiografisch schreibe, laufe ich immer Gefahr, dass ich nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden kann. Fiktionalisierung führt, jedenfalls bei mir, zu einer Objektivierung der Dinge. Ich trete so ein wenig zurück und frage mich, was ich eigentlich will. Es sind durchaus viele autobiografische Momente in den Roman eingeflossen. Aber ich habe mich bemüht, sie so zu literarisieren und neu einzuordnen, dass sich daraus etwas ergibt, was sich dann wieder an den Maßstäben des Allgemeinen messen kann und ein Geschenk an den Leser ist, indem es ihm die Möglichkeit gibt, den Text auch zu sich hinüber zu nehmen. Ich halte es nicht für sonderlich förderlich, wenn der Leser immer darüber nachdenkt, was das alles mit dem Autor zu tun hat. Der Leser soll darüber nachdenken, was das mit ihm selbst zu tun hat. Deswegen glaube ich, dass die Fiktion ungeheuere Möglichkeiten bietet, die die wissenschaftliche, die historische Art zu erzählen etwa nicht hat.

M.P.: Die Daten, die Sie den 21 Kapiteln, 13 auf der Gegenwartsebene und 8 auf der Vergangenheitsebene des Romans voranstellen, stehen zum Teil auch für gewisse politische Ereignisse: zum,Beispiel 1938 für den Anschluss Österreichs, 1945 für das Kriegsende, 1989 für den Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in den osteuropäischen Ländern. Ich habe aber nicht den Eindruck, es mit einem Österreich-Roman zu tun zu haben. Es dominiert eher das Gefühl, dass das Österreichische sowohl als geografischer Raum als auch als Zeitgeschichte hier nicht das Entscheidende ist und das Gesellschaftliche viel mehr in den Figuren, in ihren partnerschaftlichen Beziehungen, in ihrem Verhalten zueinander, im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern et cetera zum Tragen kommt.

A.G.: Das ist so unbedingt richtig. Ich meinte, dass ich den Roman mit diesen markanten historischen Punkten zusammenführen müsse, damit sich der Leser besser zurecht findet. Aber das wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen. Es ist eben vor allem ein Roman über Familienleben und zwar sehr individuelle Familienleben. Die erste Besprechung, die in Österreich erschien, war mit "Familie Österreicher" übertitelt. Ich dachte sofort: O je! Denn ich hatte natürlich niemals das Bedürfnis, Österreich an Hand einer einzigen Familie zu repräsentieren. Ein völlig abstruser Gedanke. Selbst Österreich ist komplexer, als dass man es über fünf bis sechs Menschen anschaulich machen könnte. Der österreichische Ökonom und Philosoph Leopold Kohr hat einmal gesagt: Niemand ist in der Lage etwas zu überblicken, das komplexer ist als ein mittleres Wirtshaus. Von daher gesehen ist schon eine Familie etwas, und das sage ich auch aus eigener Erfahrung, was man kaum mehr überschauen kann. Es war für mich schon Herausforderung genug, dass ich die Beziehungen innerhalb dieser Familie halbwegs nachvollziehbar mache und vermittle. Der Roman hat durch seinen Aufbau in einzelne Tage und die Zeitsprünge keinen Spannungsbogen, der von vorne nach hinten gleichmäßig durchgezogen ist und vielleicht habe ich auch darum hier und dort diese markanten Jahre benutzt. Andere wieder, etwa 1962, 1970, 1978, 1982 bezeichnen ganz beliebige Jahre/Tage. Das Kapitel vom 30. Juni 1978 zum Beispiel, da war ich schon recht mutig, besteht nur aus einer Autofahrt. Ich verzichte da auf alle Aufhänger in dem Wissen, dass inzwischen beim Leser alles da ist, dass die Personen in dieses Auto hinein mitbringen und ich im Grunde keine Schauplätze, keine historischen Effekte mehr benötige, um die Zeit erzählen zu können.

M.P.: Der Titel des Buches "Es geht uns gut". Man könnte ihn als eine nichtssagende, konventionelle Floskel bezeichnen, auch eine, die eigentlich keine Widerrede zulässt.

A.G.: Ja, genau. So wie man es in Amerika als Tabubruch auffassen würde, wenn man die Floskel "how are you doing" weitschweifig und wahrheitsgemäß beantworten würde.

M.P.: Muss man den Titel aber nicht auch ironisch verstehen? Denn erstens befindet sich Ingrids und Peters Ehe zum Zeitpunkt, wo die Worte von Ingrid gesprochen werden, auf dem absteigenden Ast. Außerdem sind es so etwa ihre letzten Worte, bevor sie am nächsten Tag bei dem Segelunfall ums Leben kommt.

A.G.: Dennoch finde ich die erste Fährte die bessere. Ironisch habe ich den Titel eigentlich nicht gemeint. Es war sehr schwierig, für den Roman einen Titel zu finden, der das Ganze meint. Der Roman ist so komplex in seiner Figurenkonstellation, dass ich keinen beliebigen Titel haben wollte. Da dachte ich mir, "Es geht uns gut" ist eine dieser Floskeln, die verhindert, dass Kommunikation zustande kommt. Die Kinder kommen von der Schule nach Hause, man fragt sie, wie es in der Schule war und sie sagen: gut, prima, nichts Besonderes, alles o.k., alles im grünen Bereich. Das sind lauter Schutzbehauptungen, die dazu dienen, keine wirkliche Auskunft geben zu müssen. Und der Roman erzählt nun, was hinter dieser Floskel steht. Mir ging es darum, all diese Details zu erzählen, die hinter der Fassade stattfinden. Und gleichzeitig steht dieses Buch für kommunikatives Scheitern, was auch wieder auf persönlichen Erfahrungen beruht, aber für mich etwas war, was nicht nur in meiner eigenen Familie eklatant war: Väter, die am Familienleben nicht teilgenommen haben, Fragen über die Familie, auf die es keine Antworten gab. Insofern habe ich auch Verständnis für Philipp, wenn er am Anfang so ungefähr sagt: Warum soll ich mich für die interessieren, die sich nicht für mich interessiert haben? Und an anderer Stelle im ersten Kapitel: Ich möchte den Fantasieaufwand nicht aufbringen, der nötig gewesen wäre, mir auszumalen, wie es gewesen sein könnte. Man hat ihm eben nicht gesagt, wie es war. Das ist nicht nur Desinteresse, sondern auch eine Verweigerungshaltung. Und es ist Trauer darüber, dass Kommunikation, Informationstransfers in der Familie nicht stattgefunden habe. Natürlich geht es ihm nicht gut, aber es ist ja immer der Wunsch da, dass es besser wird.

M.P.: Es geht ja wohl keiner der Figuren gut. Egal von welcher der drei Generationen wir reden: Ingrid kommt ums Leben, Peter quält sich mit mäßigem Erfolg, Alma hat sich eben so abgefunden, Richard befindet sich einem langen Prozess des Dahinsiechens. Und gerade, was die partnerschaftlichen Beziehungen anlangt, ist es für mich bezeichnend, dass die von Generation zu Generation ganz unterschiedlich aussehen, nicht besser oder schlechter, nur einfach anders. Bei Alma und Richard wird die Ehe vornehmlich nur noch durch Konvention, Förmlichkeit zusammengehalten. Bei der nächsten Generation, Ingrid und Peter dann schon ein wesentlich liberaleres Klima, doch steht man mitten in der konfliktträchtigen Emanzipations- und Selbstverwirklichungsproblematik der Frau. Und dann die letzte Generation, die des Philipp, der vielleicht überhaupt nicht mehr zu einer wirklichen Bindung imstande ist, jedenfalls ein großer Zögerer und Zauderer ist, dem es an dem richtigen Biss zu fehlen scheint. Der Roman kommentiert das alles nicht, es ist einfach so.

A.G.: Zuerst zu den Generationen. Natürlich ist die Beziehung von Richard und Alma eine ganz konventionelle Beziehung. Ingrid versucht das dann aufzubrechen. Sie will sich nicht in die Rolle drängen lassen, in der ihre Mutter war, nur macht ihr Mann eben nicht mit, so dass sie sich aufreibt. Bei Philipp und Johanna sind diese Rollen dann aufgebrochen und es ist klar, dass die Emanzipation der Frau zwangsläufig auch die Emanzipation des Mannes ist. Auch Philipp fühlt sich nicht gezwungen, sich einem bestimmten Rollenklischee entsprechend zu verhalten. Er hat die Möglichkeit zu wählen. Nur ist er ein bisschen entschlusslos. Dieses Entscheidungsproblem ist das Problem einer neuen Generation. Der Lebensentwurf ist nicht mehr von vornherein vorgegeben, sondern man kann theoretisch aus einer Vielzahl von Möglichkeiten wählen, hat jedoch dann das Problem, die richtige Wahl oder überhaupt noch eine zu treffen. In der Beziehung ist, wenn man so will, Johanna der Macho. Sie hat sich ziemlich bequem eingerichtet mit Ehemann und Geliebtem. Sie trifft die Entscheidungen, und Philipp nimmt eben, was er bekommt. Am Ende aber ist ihm klar, dass diese Beziehnug nicht halten wird. Er ist jedoch immer auf der Suche nach Zuneigung, und ich würde darum auch nicht sagen, dass er zu einer Bindung nicht fähig ist. Nur hat er gewisse Vorbehalte auf Grund seiner Familiengeschichte. Er würde jemanden brauchen, der ihn umarmt, und vielleicht würde er dann schon irgendwo ankommen. Er hat im Gegensatz zu den anderen Figuren den Nachteil, dass er zum Ende des Romans noch relativ jung ist. Von den anderen Figuren haben wir mehr oder weniger das ganze Leben gesehen, von Philipps nur einen Ausschnitt über zwei Monate im Jahr 2001. Aber wenn ein Lebenssinn darin liegt, sich zu verändern, dann glaube ich, es gibt am Ende des Romans Andeutungen, dass er dieses Talent sehr wohl besitzt. Ich würde sagen, die Beziehung zwischen Philipp und Johanna, die individuell scheitert, ist trotzdem die ehrlichste und offenste. Und ich tue mich außerhalb des Romans ganz leicht damit, das zu bewerten. Ich bin glücklich, dass ich 1968 geboren bin und dass ich meine Beziehungen so führe, wie ich es will, ohne jegliche Zwänge, in irgendwelchen Bereichen mehr Verantwortung zu übernehmen als mein Partner nur deswegen, weil ich vielleicht glaubte, es habe konventioneller Weise so zu sein.

M.P.: Lassen Sie uns einen Blick auf die Gesamtanlage des Romans werfen, auf seine Startkonstellation sozusagen. Ein Legitimations- oder Verifikationsmodell des Romans des 18./19. Jahrhunderts, das aber bis heute nicht außer Kraft ist, geht ungefähr so: Einer kramt auf einem Dachboden, im Keller, trifft einen Bekannten, besucht eine Schenke oder sitzt mit anderen nachts in einem Wüstenzelt und findet dabei Briefe, Dokumente, Geheimnisse, abenteuerliche Begebenheiten und so weiter., die er nach Hause schleppt und aus denen nun, dergestalt ausgewiesen als Realität und nichts als Realität, der Roman entsteht. Philipp hingegen räumt die von der Großmutter geerbte Villa auf, besser, er mistet sie aus und schmeißt nicht nur den Taubendreck, vielmehr auch fast alles in den Container, was die Geschichte seiner Familie etwa dokumentarisch erhellen könnte. Da findet ein Bruch mit einem literarischen Ritual statt, der Ihnen natürlich bewusst sein musste. Das Merkwürdigste aber ist, dass trotz dieses Einsatzes, gewissermaßen hinter Philipps Rücken, dann doch die Geschichte seiner Familie zu Papier gelangt. Es scheint sich das Buch von selbst zu schreiben, und es sieht so aus, als fruchte alles Vergessen, alle Ablehnung gegenüber der Vergangenheit nicht, da sie sich in irgendeiner Form, wenn nicht als historische Rekonstruktion, dann als Konstrukt der Fantasie, auch gegen alle Ablehnung immer zurückmelde. Hat man letztlich keine Möglichkeit, sich gegen die Heimsuchungen der Vergangenheit zu wehren, weil die Vergangenheit eben auch ohne uns da ist?

A.G.: Philipp steigt auf den Dachboden, und was er dort findet, sind erst einmal keine Briefe, sondern ein von Tauben völlig verdreckter Dachboden, den er dann ausmisten lässt. Tatsächlich gibt es da auch Briefe, die er ebenfalls wegwirft. Das geht so in Ordnung. Ich wollte ja kein Erinnerungsbuch schreiben. Familienromane sind oft rekonstruierend. Ich aber wollte einen schreiben, der das Vergessen zum Thema hat. Johanna übt zwar erheblichen Druck auf Philipp aus. Jemand wie er, sagt sie, der Vater und Mutter nicht ehre, würde ein Leben lang einsam und unglücklich sein. Sie versucht ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Und da machte er sich Notizen, in denen er mehr spaßeshalber eine Geschichte rund um eine Kanonenkugel im Treppenhaus seiner Villa erfindet, von der er nicht weiß, woher sie stammt. Es ist eine völlig absurde, an den Haaren herbeigezogene, burleske Geschichte, die mit seiner Familiengeschichte überhaupt nichts zu tun hat. Es ist die Flucht in einen märchenhaften, abgehobenen Raum. Was aber der Roman erzählt, sind Dinge, die Philipp nicht wissen kann. Der wird von mir hinter dem Rücken von Philipp erzählt. Ich finde immer wieder die Interpretation, dass Philipp der Autor des Romans sei. Da Romane immer für unterschiedliche Interpretationen offen sind, würde ich mich auch gar nicht dezidiert gegen Philipp als Erzähler stellen wollen. Ich würde nur sagen, seinem ganzen Wesen nach könnte Philipp diesen Roman so eigentlich nicht erzählen.

M.P.: Trotzdem bleibt beim Leser ein Rest von Unsicherheit über den Ursprung des Erzählens. Auch deswegen, weil der Erzähler, was er natürlich nicht muss, weder als Ich-Erzähler, noch als auktorialer Erzähler sichtbar und identifizierbar wird.

A.G.: Ich erzähle ja hier über weite Strecken personal, wenn ich auch kein Autor bin, der es mit den Erzählhaltungen besonders streng nimmt. Je nachdem, wie nahe ich an die Figuren herangehe, schlüpfe ich auch in sie hinein. Dann wird es ein innerer Monolog, oder eine erlebte Rede, wonach ich dann wieder aus den Figuren heraus trete und sie aus der Distanz betrachte. Ich würde das als intime Distanz umschreiben. So versuche ich meine Figuren dreidimensional entstehen zu lassen: betrachtet aus der Perspektive der Familienmitglieder, aus der neutralen Außenperspektive und von innen her. Da pfeife ich auf alle Regeln. Die kenne ich zwar, da ich auch Germanist bin. Aber ich verstoße bewusst gegen sie. Mir würden sonst Möglichkeiten verloren gehen, die ich nutzen möchte.

M.P.: Eine gewisse Konsequenz zeigt sich immerhin darin, dass Sie sich nicht dem 'raunenden Beschwörer des Imperfekts' an den Hals geworfen haben, sondern durchgehend im Präsenz erzählen. Welcher Vorteil ergab sich daraus für Sie?

A.G.: Weil der Familienroman eher als ein konservatives Genre gilt, stellte sich mir die Frage nach den Möglichkeiten, einen modernen Familienroman zu schreiben. Und da war mir klar, dass ich allen Figuren gleichberechtigt gegenübertreten wollte, dass nicht, was länger her ist, weniger wichtig erscheint, dass nicht die Figuren der älteren Generation nur Zuträger der Enkelgeneration sind. Das war mit der Entscheidung, alles im Präsenz erzählen zu wollen, alle Figuren aus ihrer eigenen Zeit heraus verstehen zu wollen, gemeistert. Es war die vielleicht wichtigste Vorentscheidung, die ich traf und die als Nebeneffekt das Thema vom Erinnern und Vergessen mit sich brachte. Indem sich Philipp allem Vergangenen verweigert, ich das im Präsenz erzähle und alles, was ich erzähle, im Moment des Lesens vergeht, entsteht eine Reibungsfläche zwischen Erinnern und Vergessen. Durch die Kraft der Literatur wird das Vergangene noch einmal zum Leben gebracht. Und doch weiß man, es ist verloren.

M.P.: Damit hängt wohl auch die Frage zusammen, warum Sie, bis auf die eine Ausnahme des vorgezogenen Jahres 1982, zwar chronologisch erzählen, aber eben nicht kontinuierlich chronologisch, sondern in auf der Vergangenheitsebene größeren und auf der Gegenwartsebene kleineren Sprüngen?

A.G.: Ja. Ich kann im Präsenz nicht in großen, geschlossenen Bögen erzählen. Ich muss im Moment bleiben. Durch die Entscheidung fürs Präsenz bin ich mehr oder weniger zwangsläufig in den jeweils einzelnen Fall hineingeraten. Ich kann da nicht sagen: fünf Tage später... Ich muss im Moment bleiben. Und ich denke, es hat sich bewährt.

M.P. In einem früheren Interview haben Sie sich einmal dazu hinreißen lassen, aus der Literaturgeschichte Beispiele für den gelungenen und den misslungenen Familienroman zu benennen. Ihr Positivbeispiel: "Madame Bovary" Ihr Negativbeispiel hingegen dafür, "wie ein Text radikal altern kann, weil im Grunde schlecht gemacht": "Effi Briest". Das Letztere ist ein Tritt gegen das Schienbein des deutschen Bildungsbürgertums, zu dessen Lieblingslektüre eben dieses Buch gehörte und gehört. "Radikal altern"? Nun gut. Aber "schlecht gemacht"? Inwiefern? Könnten Sie etwas genauer sein?

A.G.: Es geht mir nicht um das Thema. Dass Fontanes Buch inhaltlich ambitioniert ist und für die damalige Gesellschaft eine hohe Relevanz hatte, das spreche ich ihm nicht ab. Aber es hat nicht mit der Individualität von Personen zu tun. Die sind konstruiert und überzeugen mich nicht. Sie sind nicht einmal mit Sorgfalt konstruiert. Und dann dieses fortwährende 'arme Effie, arme Effie' des Erzählers. Es muss sich das der Leser selber denken, ohne dass es ihm ständig aufgedrängt wird. Dieser Erzähler hält seine Leser offensichtlich für nicht wirklich imstande, eigene Schlüsse zu ziehen. In der ca. 40 Jahre vorher erschienenen "Madame Bovary" hingegen bleibt das Geschehen weitgehend unkommentiert. Da wird wirklich großartig erzählt. Dass Fontane 40 Jahre später soweit hinter eine Entwicklung zurückfallen konnte, die die Literatur schon genommen hatte, finde ich mehr als erstaunlich, und ich würde ihm das auch zurecht zum Vorwurf machen. Ich selber bin ganz stark in der Tradition der österreichischen Literatur sozialisiert. Man merkt es meinen früheren Büchern, meinem ersten und zweiten Roman vor allem an, dass ich ein sprach- und formbewusster Autor bin. Ich bin aufgewachsen mit Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. Der ,Geschichtenzerstörer' Bernhard hat einmal gesagt, er würde jede Geschichte, die hinter einem Prosahügel auftauche, abschießen

. So dachte auch ich zunächst, dass man keine Geschichten erzählen darf. Bereits meine frühen Romane wurden sehr gut besprochen. Doch es hat nie einer den Inhalt auch nur mit einem Wort erwähnt. Das hat mir zu denken gegeben. Es gab da zum Beispiel eine sehr lobende Besprechung, die war über schrieben: "Ein Buch aus nichts". Ich habe mich wahnsinnig darüber geärgert. Denn natürlich stimmte das nicht. Es war aber die Sache, über die ich geschrieben hatte, offenbar gar nicht mehr sichtbar vor lauter Sprache und Form. Dennoch denke ich, es wäre der Roman, über den wir hier vor allem reden, nicht möglich gewesen ohne all das, was ich bei den früheren Büchern gelernt habe.

M.P.: Ich lese Ihren Roman auch als einen des Alterns und Sterbens. Nicht des großartigen, heldenhaften, tragischen, spektakulären Sterbens sondern des ganz normalen Sterbens. Da im Roman immer ja Zeit vergeht, altern die Figuren natürlich. Und wenn der Roman einen ausreichenden Zeitraum abdeckt, dann sterben sie auch: immanente Logik des Lebens. Sehe ich es dennoch richtig, dass Ihnen das Altern, das langsame Absterben von Richard, der am Ende nur noch armselige stoffliche Hülle ohne geistige Füllung ist, besonders wichtig war?

A.G.: Die Zeit, das Vergehen der Zeit und damit das Altern sind eines der ganz großen Themen der Literatur, vermutlich das größte Thema überhaupt. Wer Romane schreibt, ohne sich der besonderen Rolle der Zeit bewusst zu sein, an dem geht ein Teil des Wunderbaren dieser Gattung vorbei. Gerade von dort bezieht der Roman ja einen wesentlichen Teil seiner Kraft, seiner Tiefe und Komplexität. Und dann gibt es auch persönliche Gründe für mein Interesse an Menschen, deren Leben sich dem Ende zuneigt: das langsame Weniger-Werden, das ich an meinem dementen Vater erfahren muss. Es ist ein beunruhigendes und wenn nicht beunruhigendes, dann zumindest ernüchterndes Phänomen. Wir rackern uns ab und wissen, es ist ein Haschen nach Wind. Bewusstmachen kann in so einem Fall nie schaden. Das habe ich versucht.

M.P.: Wir sprechen heute viel von der dominanten Macht der Bilder, ihrem Manipulationsvermögen, ihrer Bedienung des Irrationalen. Als Schriftsteller stehen Sie am anderen Ufer: Schrift als in der Zeit ablaufendes Medium ist Ihr Metier, Linearität, Geschichtsbewusstsein. Haben Sie manchmal Angst, wir könnten tatsächlich am Rande eines Paradigmenwechsels stehen, der zwar neue, offenere, vernetztere Kommunikationsformen produziert, uns aber auch, ganz überspitzt gesagt, in eine zeit- und geschichtslose, ewig nur gegenwärtige Daseinsform schiebt? Philipp war ja teils schon dort angelangt, bevor er sich am Ende des Romans dann doch noch aufzuraffen scheint. Kann das Erinnern sterben, weil es keine Vergangenheit mehr gibt und anders herum?

A.G.: Nein, die Angst vor einem Paradigmenwechsel habe ich nicht, und das Verschwinden von Vergangenheit ist meines Erachtens eine eher abwegige Vorstellung, da die Zeit am Ende halt doch vergehen muss, der Mensch altert und irgendwann mehr Zeit hinter sich hat als vor sich. Das Wort als Erinnerungsspeicher wird zyklische Ab- und Aufschwünge erleben, der Wunsch nach einer Selbstversicherung in der Vergangenheit wird letztlich aber nicht nachlassen, da ich diesen Wunsch für ein menschliches Grundbedürfnis halte. Kierkegaard sagt sinngemäß, dass man das Leben nur verstehen kann, indem man zurückschaut, und es nur leben, indem man vorausschaut. In diesem Spannungsverhältnis wird man sich je nach Situation mehr zurück oder nach vorne orientieren. Skepsis gegenüber Tradition und Überlieferung ist übrigens nichts Neues. Schon Friedrich Nietzsche macht sich darüber Gedanken. In seiner "Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung" geht das dahin, dass zu einer lebendigen Kultur das Erinnern wie das Vergessen gehören, weil Erinnern nur dann sinnvoll sei, wenn es den eigenen Blick einbindet und so auch das Vergessen steuert. Nietzsche meint, dass das Vergangene zum "Totengräber des Gegenwärtigen" werden könne, wenn man die ungeheure Menge an Wissenssteinen nicht verdaue. Also ist auch Vergessen im Sinne von Aussortieren und Umwandeln eine Kulturleistung. Ich würde sagen, das gilt nicht zuletzt für Philipp in meinem Roman.

Das Gespräch mit Arno Geiger wurde am 18. Oktober 2006 in der Deutschen Bibliothek Den Haag geführt.

Biographie:

Arno Geiger wurde 1968 geboren. Er wuchs in Wolfurt, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Bregenz im Vorarlberg auf. In Salzburg, Innsbruck und Wien studierte er Jura, Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Geschichte. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Wien. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2005 den Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg und für seinen Roman "Es geht uns gut" den Deutschen Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Bibliographie:

Neben einer Reihe von Zeitschriftenbeiträgen erschienen von Arno Geiger bisher:

Kleine Schule des Karusselfahrens, Roman, 1997 Hanser.

Irrlichterloh, Roman, 1999 Hanser

Alles auf Band oder Die Elfenkinder, Drama (zusammen mit Heiner Link), 2001 Deuticke.

Schöne Freunde, Roman, 2002

Es geht uns gut, Roman, 2005 Hanser.

Dieses Gespräch erschien zuerst in: Deutsche Bücher 2007 (Jahrgang 37) Heft 1 Seite 5-10