Nordische Mythologie auf Abwegen

Klaus Böldl erforscht die Rezeptionsgeschichte der Edda

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

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Dass die nordische Mythologie in Richard Wagners "Ring der Nibelungen" eine zentrale Rolle spielt, ist bekannt; dass diese Überlieferung darüber hinaus seit der frühen Aufklärung intensiv diskutiert wurde, dagegen weniger. Abhilfe schafft hier die verdienstvolle Dissertation Klaus Böldls. Die von Böldl rekonstruierten Deutungsmodelle der "Edda"-Rezeption reichen von der Aufarbeitung eddischer Quellen im Urprotestantismus über die Beschäftigung mit mythischen Gestalten in der frühen Geschichte Skandinaviens bis zur ästhetischen und philosophischen Evaluation des germanischen Mythos in Klassik und Romantik. Berücksichtigung finden dabei so unterschiedliche Disziplinen wie Geschichte, (Religions-) Philosophie, Philologie und Naturforschung.

In der Aufklärung wird die Aufarbeitung eddischer Motive vor allem von Montesquieus Klimatheorie bestimmt, die die moralischen Qualitäten der Germanen, insbesondere der Skandinavier, zu Lasten der mediterranen Völkerstämme entschieden aufwertet, indem sie Naturfaktoren wie Klima und Boden als Generalursache für die jeweilige Beschaffenheit der Staatssysteme ausweist. Andere Autoren unternehmen es, die für das 18. Jahrhundert charakteristischen Konzepte der Leib- und Affektkontrolle auf die germanische Vorzeit zurück zu projizieren und so hinterrücks nicht nur der Gegenwart eine ehrwürdige Tradition, sondern - nun in zivilisationskritischer Absicht - auch der Tradition eine ihr ebenbürtige Zukunft zu bescheren. Unter dem Eindruck der Klimatheorie bescheinigt Herder der nordischen Mythologie einen "eigenen Geist roher, kühner Dichtung, starker, reiner und treuer Gefühle". Böldl verschweigt allerdings, dass Herder der äußeren Natur, wohl vor dem Hintergrund der einflussreichen Montesquieu-Kritik eines Voltaire oder Turgot, lediglich eine sekundäre Wirkung zubilligt. Für Herder ist "die genetische Kraft [...] die Mutter aller Bildungen auf der Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwinket".

Trotzdem lassen sich die Beispiele der ideologischen Einverleibung nordischer Mythologeme anhand von Böldls Studie beliebig vermehren. Christozentrisch etwa wird der Mythos bei Jakob Grimm und - nach dessen Konversion zum Katholizismus 1808 - von Friedrich Schlegel gedeutet. Deutet Wotans exponierte Stellung für Grimm noch darauf hin, dass die monotheistische Idee eines Vatergottes ein unhintergehbares Menschheitswissen darstellt, betont er also die Gleichrangigkeit beider Religionen, so erhebt Schlegel die germanische Mythologie aufgrund ihrer Affinität zum Christentum über die griechische. Böldls Untersuchung ist jedoch zu problemorientiert, als dass sie unter der politischen Rhetorik, mit der so manche Mythendeuter ihren patriotischen Symbolbedarf decken, jene andere Matrix nicht mehr zu entdecken vermag, die bislang durch den Sehschlitz der Ideologiekritik wenig sichtbar war: die "Fortschreibung" des Mythos. So scheint etwa in der christozentrischen Orientierung Schlegels noch ein weiteres Deutungsmotiv durch: In der Gegenüberstellung von persisch-germanischem und griechisch-römischem Mythos reproduziert sich getreulich der Gegensatz zwischen dem als defizitär empfundenen mechanistischen Naturverständnis der Aufklärung und der organistischen Naturlehre der Romantik.

Ihren historischen Ursprung hat die "Edda" in den Augen der Romantiker in einem holistischen Urmythos, der, obzwar zwischenzeitlich verschüttet, als verlorenes Wissen wieder reaktiviert werden kann. Mit der Idee einer ursprünglichen Ur-Einheit, auf die schon bei Ovid eine Periode des Verfalls folgt, verfährt die romantische Auslegung ihrerseits mythologisierend. Im Fall der Aufklärung bewahrheitet sich in solchen Fortschreibungen gar eine unverdrossene Dialektik. "Gerade die Aufklärung", schreibt Böldl, "die sich besonders dezidiert und häufig genug auch polemisch von mythischen Denkweisen abgrenzt, etabliert eine Form der Mythenrezeption, die ihrerseits deutlich mythische, nämlich nicht rational begründbare Züge annimmt." Dass die "Edda" nicht nur literarisch adaptiert, sondern von vielen Autoren hinsichtlich ihrer poetischen Verwertbarkeit ausgelotet wurde - kritisch etwa von Goethe, Schiller und Wackenroder -, macht Böldls Studie nicht nur für den Mythologen oder Literaturwissenschaftler, sondern auch für den Literaturtheoretiker überaus interessant.

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Klaus Böldl: Der Mythos der Edda.
Francke Verlag, Tübingen 2000.
330 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3772027490

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