Das Eriwan-Dilemma

Magnus Gäfgens Aufzeichnungen "Allein mit Gott. Der Weg zurück"

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Manns Tonio Kröger äußert sich in seinem Gespräch mit der Künstlerin Lisaweta Iwanowna detailliert über das Verhältnis des Künstlers zur bürgerlichen Gesellschaft. Er berichtet von einem straffällig gewordenen und zu einer nicht geringen Haftstrafe verurteilten Bankier, der nach seiner Entlassung begonnen habe, durchaus achtbare Novellen zu schreiben, die vorwiegend seine Erlebnisse hinter Gefängnismauern behandelten. Kröger, fin de siècle-typisch mit der Vorstellung vom Dichter als Outlaw und Bruder des Verbrechers kokettierend, bis ihn Lisaweta mit ihrer Feststellung, er sei doch nur ein Bürger auf Abwegen, auf den Boden der Tatsachen zurückholt, sieht als auslösendes Moment der schriftstellerischen Betätigung des vorbestraften Bankiers weniger die Erfahrungen seiner Haftzeit an als vielmehr das, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt geraten liess - der Impuls, der den einen zum Künstler, den anderen zum Verbrecher macht, ist für ihn ein und derselbe. An anderer Stelle erwähnt er noch, dass das starke Gefühl in der Kunst bedeutungslos, wenn nicht gar schädlich sei.

Man sollte diese teils zeitgebundenen, teils weiterhin erwägenswerten Gedankengänge im Hinterkopf behalten, wenn man sich Magnus Gäfgens "Allein mit Gott. Der Weg zurück" betitelte Aufzeichnungen zu Gemüte führt. Rudimentäre Kenntnisse der Geschichte des Autors, eines ehemaligen Frankfurter Jurastudenten, der im September 2002 den Bankierssohn Jakob von Metzler entführte und ermordete, im Gefängnis seine juristische Examensprüfung ablegte, zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung nach 15 Jahren verurteilt wurde und seither die Öffentlichkeit immer wieder durch seine Aktivitäten in Empörung versetzt - sei es durch seine Foltervorwürfe, die den damaligen Frankfurter Vizepolizeipräsidenten Wolfgang Daschner um dessen Amt brachten, sein Versuch, eine Stiftung für Verbrechensopfer zu gründen, die seinen Namen tragen soll, oder seine Klage in Straßburg gegen die Bundesrepublik wegen Menschenrechtsverletzung - , darf man voraussetzen. Gegenstand einer Besprechung seines Buches im feuilletonistischen Rahmen, der es um eine Betrachtung rein literarischer Art geht, kann auch nicht die Frage sein, inwiefern sich seine Darstellung der Geschehnisse mit anderen Berichten deckt oder das Beschriebene überhaupt den Tatsachen entspricht, sondern inwiefern es dem Verfasser gelingt, seine Intentionen adäquat umzusetzen - normalerweise eine Selbstverständlichkeit, die aber angesichts des besonderen Falles noch einmal vor Augen zu führen erlaubt sein sollte.

Die Intentionen dieser 230 Seiten Prosa sind gewiss nicht künstlerischer Art zu nennen. Der Autor, von den Medien mehrfach als "Bestie", "Scheusal", "Monster", "Niemand", "Nichtmensch", "Unmensch", "Untermensch" und anderes tituliert, versucht gegen ein denkbar massives Negativimage anzukämpfen. Er versucht, einen Einblick in seine Entwicklung zu geben, eine Erklärung für sein Handeln zu finden und Zeugnis von seinen Schuldgefühlen abzulegen. Er versucht zu zeigen, dass es ihm bei seiner Klage gegen Daschner und die Bundesrepublik nicht um eine Relativierung seines Verbrechens gehe, sondern vielmehr darum, einen Weg zurück in die menschliche Gesellschaft zu finden, und dass der einzige ihm momentan mögliche Beitrag zu einer Wiedergutmachung seiner Mordtat darin bestünde, alle Welt auf das Problem der Folter hinzuweisen. Er versucht dies und das und alles mögliche - und doch wird daraus nichts Rechtes.

Bereits der Titel erweist sich als eine - unfreiwillige? - Mogelpackung. Man erwartet etwas über die Überlegungen eines Inhaftierten zu lesen, der sich intensiv mit seiner Schuld auseinandersetzt und dabei seine verschütteten religiösen Bindungen wiederentdeckt. Damit ließe sich durchaus ein ganzes Buch ansprechend füllen. Das aber geschieht hier leider nicht. Gäfgens Ausführungen zum Thema bleiben auf bestürzende Weise oberflächlich. Ein im Prinzip herzensguter Junge aus einfachen Verhältnissen, von Kindheit an sozial engagiert und in kirchlichen Vereinigungen tätig, wird durch Zurückweisungen und unbegründete Vorwürfe wenn auch nur geringfügiger Art immer mehr von der Welt enttäuscht, wird immer oberflächlicher und orientiert sich nur noch am schönen Schein, sucht Zugang zur Welt der Reichen und Schönen, verschuldet sich und versucht, sich durch Erpressung eine finanzielle Grundlage zu erwirtschaften, die ihm einen längeren Aufenthalt auf der Sonnenseite des Lebens ermöglichen soll. Nachdem das schiefgegangen ist und er sich hinter schwedischen Gardinen wiederfindet, kommt ihm schlagartig zu Bewusstsein, wie weit er sich von seinen katholischen Wurzeln entfernt hat, bereut alles, hängt religiöse Bilder in seiner Zelle auf, betet den Rosenkranz und beschliesst, sich gegen Folter zu engagieren und auf diese Weise einen ersten Schritt in Richtung seiner Resozialisierung zu tun.

Damit sind die Themen "Schuld" und "Reue" abgehandelt, aber damit der Leser auch ja nicht vergisst, wie reuig und schuldig der Verfasser sich fühlt, beteuert er das im Verlauf des Buches immer mal wieder - vielleicht in der Befürchtung, dass diese Dinge in der Tat ein bisschen untergehen könnten, neben allem anderen, was sonst noch so drin steht? Denn da steht ja noch, wie eingangs erwähnt, so manches drin - allerdings rein gar nichts, was mit dem Titel in Verbindung zu bringen wäre. Gäfgen schildert seine Sicht des Verhörs, in dessen Verlauf man ihm - seinen Worten zufolge - Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor verspürt habe, in Aussicht stellte (woraufhin er sein erstes, später widerrufenes Geständnis ablegte), berichtet minutiös über den Haftalltag, die Schikanen durch die Mehrzahl des Wachpersonals und der Mithäftlinge, die Voreingenommenheit der Medien und des Gutachters Norbert Leygraf und den Prozess, der seiner Ansicht nach überwiegend von der Undifferenziertheit und dem mangelnden Einfühlungsvermögen der Organe unseres Rechtsstaates geprägt gewesen sei. Er reflektiert über Rechtsphilosophie und schildert schrullige Knastoriginale. Auf eine Schilderung seiner Tat verzichtet er, um, wie es in erschreckender Floskelhaftigkeit im Vorwort heißt, mühsam verheilte Wunden bei sich und anderen nicht wieder aufzureißen - das hätte sich aber auch aus reinen Geschmacksgründen verboten.

Juristisch ist sein Buch sicher nicht zu beanstanden - weder leugnet er seine Tat, noch findet hier die häufig zitierte Täter-Opfer-Umkehrung statt, und auch von einer direkten Relativierung seines Verbrechens kann nicht die Rede sein. Literarisch kann man das Ergebnis aber nur als Katastrophe bezeichnen. Sprachlich durchaus gewandt, wenn es um die Erörterung juristischer Überlegungen geht, bedient sich der Autor vorrangig einer unspezifischen Mitteilungsprosa, die stets dann, wenn er sich um Einfühlsamkeit (etwa bezüglich der Unbilden des Gefangenendaseins) oder um pathetische Appelle (in seinen Plädoyers gegen die Folter) bemüht, bestenfalls lächerlich wirkt - schlimmstenfalls nicht einmal das - und ansonsten komplett in gängigem Psychojargon erstickt.

Aber die Sprache ist noch das geringste Problem. Viel schlimmer ist die Tatsache zu werten, dass der Großteil des Buches seiner eigentlichen Absicht, sich als tätig Bereuenden zu präsentieren, auf geradezu groteske Weise zuwiderläuft. Trotz seiner zahlreichen Reuebekundungen hat man bei fortschreitender Lektüre den Eindruck, es hier mit den Aufzeichnungen eines politischen Gefangenen zu tun zu haben, der aus übersteigertem Idealismus ein bisschen über die Stränge geschlagen habe, an dessen grundsätzlicher moralischer Lauterkeit es jedoch keine Zweifel gäbe, und nicht mit den Bekenntnissen eines reuigen Mörders. Selbstverständlich bekommen auch Hitler, Stalin und Franco in diesem Zusammenhang ihr Fett weg.

Nun wurde Jakob von Metzler aber nicht entführt und ermordet, um damit ein flammendes Symbol gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen zu setzen. Angesichts dieser Tatsache muten Gäfgens medienkritische Auslassungen gegen die primär von Profitinteressen getriebene Boulevardpresse durchaus unpassend an. Auch das Engagement des Autors gegen Folter, so berechtigt es auch ist, wirkt nicht ganz so überzeugend, wie es der Verfasser sicher gerne gehabt hätte. Obwohl er darauf hinweist, sich schon während seines Studiums mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt zu haben, wird man doch das Gefühl nicht los, dass er sich erst infolge seiner Festnahme für diese Problematik zu sensibilisieren begonnen habe, und man kann sich - offen gestanden! - nicht vorstellen, dass Magnus Gäfgen, wenn es ihm gelungen wäre, mit dem Lösegeld unbemerkt zu entkommen, sich als erfolgreicher Junganwalt mit ebensolcher Leidenschaft in dieser Sache hervorgetan hätte. Überdies muss man ihm vehement widersprechen, wenn er die Notwendigkeit der von ihm angestoßenen Folterdebatte betont - die Debatte war gewiss notwendig, aber er hat sie nicht angestoßen, sondern sie hat sich an seinem Fall entzündet. Debatten pflegen für gewöhnlich nicht durch Morde angestoßen zu werden.

Als Leser fühlt man sich ständig in die Rolle eines "Radio Eriwan"-Redakteurs versetzt. Ständig möchte man dem Verfasser sagen: "Im Prinzip ja, es fragt sich nur...". Sicher ist es nicht angenehm, eingesperrt zu sein, sicher ist Folter und Folterandrohung zu verurteilen, sicher muss man selbst als verurteilter Mörder seine unveräußerlichen Rechte einklagen können und sicher ist es jedem freigestellt, seine Seminarscheine, ärztlichen Gutachten und Fotografien von Verletzungen in einem Band zu publizieren - aber das alles ist für ein Buch, das einen ersten Schritt in Richtung Wiedergutmachung darstellen sollte, zumal in dem hier gebotenen Umfang, einfach zuviel. Auf diese Weise gerät die Auseinandersetzung mit seiner Tat vollends aus dem Blickfeld der Erläuterungen. Von verhängnisvoller Zweideutigkeit sind seine Darlegungen, wenn er von den Geschehnissen des Herbstes 2002 schreibt, die ihn bis in seine Träume hinein verfolgten - hinsichtlich einer späteren Äußerung, dass das, was sich innerhalb der Mauern des Frankfurter Komissariats 12 ereignet habe, sich nie mehr wiederholen dürfe, wird man der Vermutung nicht Herr, das eigene Leid bewege den Autor doch noch stärker als das Leid, das er durch seine Tat bei anderen verursachte. Was genau will er uns bei der Beschreibung der Urteilsverkündung mitteilen, wenn er seine Ausführungen mit einem Zitat aus Kafkas "Prozess" einleitet, einen Prozess wie diesen zu haben, bedeute, ihn von vorne herein verloren zu haben? Und worin genau liegt für ihn das Lächerliche des ganzen Prozesses begründet, das ihm beim Aufwachen am Morgen des letzten Prozesstages unangenehm zu Bewusstsein gelangt? Unterhalb jeder Diskussionswürdigkeit sind seine Überlegungen während der Urteilsverkündung, ob Jakob diese Geschehnisse mitbekomme und was er darüber denke - sein Opfer als der Einzige, der ihn wirklich verstehe?

Ein weiterer heikler Punkt des Ganzen ist der Humor - oder das, was Magnus Gäfgen wohl darunter verstanden wissen wollte. Er streut ihn während der Beschreibung der Prozesszeit nur sparsam ein. Wohlwissend, dass er unter CDU-Wählern schwerlich Bewunderer zu erwarten habe, verweist er auf die Witzeleien seiner Mithäftlinge, seine mündliche Prüfung, wenn sie nicht auf die Zeit nach der Hessenwahl 2003 verlegt worden wäre, hätte Roland Koch um das Amt des Ministerpräsidenten bringen können. In den Schlusskapiteln dominiert das absichtlich komische Element dann zusehends. Man erfährt hier viel von schrägen Vögeln, die einem das Blaue vom Himmel herunter erzählen über gigantische Erbschaften, geheime Diamantminen und alle möglichen Zusammenhänge. Hier hat der Autor anscheinend vollkommen den Faden verloren - oder wir sind beim Kern des Buches angelangt. Man erinnere sich an Tonio Krögers Bankier und an Magnus Gäfgens eingestandenes Bestreben, zu höheren gesellschaftlichen Kreisen Zugang zu finden. Könnte man so vielleicht einen Zugang zum verborgenen Sinn dieser Passagen finden? Will Gäfgen andeuten, dass er letztlich nicht zu diesen Leuten gehöre, die für ihn höchstens als Objekte karitativer Tätigkeiten oder als Anekdotenlieferanten von Interesse sein können? Ihnen fühlt er sich offensichtlich weniger nah als dem in Untersuchungshaft sitzenden Topmanager, der im Gefängnis zunächst einmal Erleichterung empfindet, da nun der alltägliche Berufsdruck von ihm gewichen sei. Wenn es so sein sollte, dann hätten die Denkstrukturen, aufgrund derer er es fertigbrachte, einen kleinen Jungen zu entführen und zu ermorden, mehr mit der (unbewussten) Grundintention seines Buches zu tun, als ihm selber lieb ist. Dann hätte sich auch seine in den Anfangsteilen erwähnte Schillerlektüre, die ihn das Verhältnis zwischen Verbrecher und gesetzestreuem Bürger neu überdenken ließ, nicht gerade als von nachhaltigem Einfluss erwiesen.

Der Eindruck, es hier mit dem Werk einer menschlichen "Bestie" zu tun zu haben, stellt sich indes nicht ein - allerdings auch nicht der Eindruck, das Werk eines Geläuterten zu lesen. Magnus Gäfgen mag gerne der gute Mensch und brave Student auf Abwegen (und wer wollte ernsthaft etwas anderes erhoffen?) sein, als der er sich hier krampfhaft zu präsentieren bemüht - aus dem Text heraus lässt sich das nicht lesen. Offenkundig schreibt hier jemand - metaphorisch gesprochen - um sein Leben, aber da er über unverbindliche Reuebekundungen nicht hinauskommt, ihm jede vertiefte Auseinandersetzung mit seiner Schuld missrät und ihm jede emotionale Distanz zu seinem Stoff fehlt (so beherrscht er sich auch zu geben versucht, hat er doch hier - erneut? - die Nerven verloren), schreibt er sich - zum Glück auch nur metaphorisch - um Kopf und Kragen. Magnus Gäfgen hat seine Tat nach einigem Hin und Her gestanden und hoffentlich auch tatsächlich bereut - gestellt hat er sich ihr jedoch nicht. Er ist bis heute vor ihr geflohen. Sein Buch und seine sonstigen Aktionen dokumentieren dies auf bedrückende Weise.


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Magnus Gäfgen: Allein mit Gott - Der Weg zurück.
Atlantic Millenium Press, Bendorf 2006.
230 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3000171142

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