Konkretisierung eines Gerüchts - Yannick Müllenders ausführliche Untersuchung des "Divina Commedia"-Projekts von Peter Weiss, nebst einem Hinweis auf das dazu gehörige "Inferno"

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Noch vor der Uraufführung von "Marat/Sade" begann Peter Weiss mit einem neuen Theaterprojekt, das "in gewisser Weise das Marat-Stück" fortsetze, wie er Alfred Alvarez gegenüber erklärte: "auch in ihm geht es um die Frage der Gewalt und der hoffnungslosen Situation des einzelnen in unserer Zeit". Geplant war ein "umfangreiches Stück mit drei Teilen". Darin wollte Weiss seine persönlichen Erfahrungen mit den historischen NS-Verbrechen des 20. Jahrhunderts in einem umfassenden szenischen Reigen verbinden. "Ich plante ein Welttheater [...], das der Struktur der ,Göttlichen Komödie' folgte", schrieb Weiss in dem 1965 erstmals publizierten "Gespräch über Dante". Dante Alighieris mittelalterliche Jenseitswanderung wollte Weiss "gegen den Strich" gelesen in die Gegenwart transponieren.

Dantes Überzeugung, dass die guten Menschen nach ihrem Tod belohnt würden, die Schlechten aber mit den Peinigungen der Hölle bestraft, konnte Weiss nicht mehr ernst nehmen. An ein Leben nach dem Tod glaubte er nicht, und seine Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass die Peiniger auf Erden kaum einmal bestraft würden, während ihre Opfer vergeblich auf Erlösung hofften. Folgerichtig musste die "Hölle" ein Ort des Wohllebens für die Tyrannen, das "Paradies" aber der Ort der Verzweiflung für die Leidtragenden sein. Das dazwischen liegende "Fegefeuer" wäre der Ort des Zweifels, das heißt aber auch der möglichen Entscheidung, in dem der irdische Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker ausgefochten wird.

Zwei Teile aus diesem Projekt konnte er abschließen: Erstens das "Inferno" (1964) und zweitens den dritten Teil: das "Paradiso" (1965). Auf Grund des zeitgeschichtlichen Bedeutung des Auschwitz-Prozesses, der Inhalt des "Paradiso" war, wurde die Einheit des "Divina Commedia"-Projekts aufgegeben und der dritte Teil unter dem Titel "Die Ermittlung" separat veröffentlicht. Nach seiner Uraufführung am 19. Oktober 1965 wurde die "Ermittlung" rasch zu einem der größten Erfolge von Weiss; und paradoxerweise war es der Welterfolg dieses Stücks, der das "Divina Commedia"-Projekt scheitern ließ.

Der erste Teil, "Inferno", war schon vor der "Ermittlung" vorläufig abgeschlossen gewesen, hatte aber noch nicht im gleichen Maße die zwingende Form erhalten wie der Paradiso-Teil. Zur geplanten Überarbeitung oder Neufassung des "Inferno", dessen Inhalt die schwierige Rückkehr der Exilanten in die verdrängungswütige Nachkriegsgesellschaft westlichen Musters war, kam es nicht mehr. Erst 2003 wurde das Stück von Christoph Weiß aus dem Nachlass publiziert. Der Herausgeber resümierte an anderer Stelle: "Entsprechend der in den Notizbüchern sich abzeichnenden Konzeption hat Weiss im ersten Teil des ,Divina Commedia'-Projektes in mannigfaltigen Überblendungen NS-Vergangenheit, westdeutsche Gegenwart und den eigenen Lebensweg in Dantes ,Divina Commedia' gespiegelt. Weiss' Kritik am Fortwirken des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland und an deren kapitalistischen System, die im Laufe des Jahres 1965 für fast alle Beobachter völlig unerwartet kam, war 1964 in ihren wesentlichen Teilen nicht nur konzeptionell bereits vorhanden, sondern hatte sich im ,Inferno'-Stück auch schon literarisch voll entfaltet. Diese Kritik resultierte in erster Linie weder aus dem Studium marxistischer Theorien noch stand sie zu diesem Zeitpunkt in Verbindung mit einer Hinwendung zum realsozialistischen Systemgegner des Kapitalismus; vielmehr war sie in ihrem Kern begründet in der unmittelbaren persönlichen Wahrnehmung des zurückkehrenden Exilanten, der in der neuen Gesellschaft allenthalben auf Relikte der alten Verhältnisse stößt, deren Virulenz für ihn evident ist. Weiss' Urteil fällt desto härter aus, je deutlicher sich der Gegensatz bemerkbar macht zwischen der Erinnerungsverweigerung der Tätergesellschaft und der Bedrängung des Rückkehrers durch das eigene, als Schuld empfundene Versagen".

"Inferno" hatte seinerzeit bei der professionellen Literaturkritik keinerlei Resonanz gefunden. Viele Theaterleute zeigten sich aber fasziniert, auch wenn bis heute das Schauspiel als solches noch nicht inszeniert wurde. Als Oper aber erlebte es 2005 seine Uraufführung in Bremen. Johannes Kalitzke hatte das Stück zu einem Libretto umgearbeitet und vertont. Alle wichtigen Medien berichteten über diese Inszenierung, und zwar überwiegend positiv. Kalitzke hatte das Werk relativ treu eingekürzt, wenngleich er die Spezifik der Rückkehr eines jüdischen Emigranten in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft zurückdrängte zu Gunsten der Thematik von der Korrumpierbarkeit des Künstlers in einer von Kommerz und Totalitarismus geprägten Gesellschaft.

Kalitzke wollte so den Gegenwartsbezug des Stücks stärken: "Wenn man ,Inferno' nur als Aufarbeitung der Nachkriegszeit lesen könnte, hätte es mich nicht sehr interessiert, denn ich muss ja ein Werk schreiben, das als Erkenntnisgrundlage der eigenen Gegenwart dient und nicht als historisches Bild, selbst wenn es nur 50 Jahre zurück liegt und die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sein sollte." Musikalisch legte Kalitzke die Oper als "schwarze Revue" von abnehmender Komplexität an; strudelartig läuft das Stück, das in postmoderner Manier sich bei allen musikalischen Traditionen, häufig parodistisch, bedient, auf ein immer gedrängteres und beruhigtes Ende zu. Das Bremer Theater hat in Zusammenarbeit mit Radio Bremen die damals live übertragene Uraufführung auf zwei CDs dokumentiert, die über das Theater zu beziehen sind. Der Erlös dieser CD-Aufnahme wird "Mauern öffnen e.V." für die Bildhauerwerkstatt in der Justizvollzugsanstalt Bremen gespendet. Dies ist eine Idee wahrlich im Sinne von Peter Weiss, der sich nach dem Krieg eine Zeitlang mit Kunstkursen im Stockholmer Gefängnis Långholmen über Wasser hielt.

Auch nach der Fertigstellung von "Inferno" und "Paradiso" ("Die Ermittlung") beschäftigte sich Weiss immer wieder mit dem "Divina Commedia"-Projekt, entweder als Versuch eines neuen "Welttheaters" oder als "Prosaversion". Erst in den 1970er-Jahren verabschiedete er sich endgültig zu Gunsten der "Ästhetik des Widerstands" von dem Dante-Projekt. In der literaturwissenschaftlichen Forschung war das Projekt immer mehr oder weniger gerüchteweise präsent. Dies ist nun mit der umfangreichen Untersuchung von Yannick Müllender anders geworden. Er analysiert die gesamten im Nachlass befindlichen Notizen, Skizzen und Textfragmente, die Weiss zwischen 1964 und 1969 anfertigte. Das Material ist für die Erkenntnis der Probleme, die den Emigranten Peter Weiss umtrieben, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es verdeutlicht das für Weiss' Schaffen typische Spannungsverhältnis von subjektiven und politischen Reflexionen. Zugleich verspricht Müllender Einsicht in die Bedeutung, welche die schöpferische Aneignung eines klassischen Texts (Dantes "Divina Commedia") für die Entwicklung einer eigenen künstlerischen Methode bei Weiss hatte. In einem umfangreichen Anhang ediert Müllender 15 Textkonvolute, die von einem Arbeitsschema über verschiedene Entwürfe bis hin zu der bis zum 12. Gesang ausgearbeiteten "Dante-Prosa" aus dem Jahr 1969 reichen. Durch diese Edition erschließt Müllender einen zentralen Bereich des Weiss-Nachlassses für die Öffentlichkeit.

A.B.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.


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Johannes Kalitzke: Inferno. Oper nach dem gleichnamigen Stück von Peter Weiss. Live-Aufnahme der Uraufführung am 11. Juni 2005 im Theater am Goetheplatz.
Musikalische Leitung: Stefan Klingele. Inszenierung: David Mouchtar-Samorai.
Radio Bremen, Bremen 2005.
94 min, 18,00 EUR.

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Titelbild

Peter Weiss: Inferno. Stück und Materialien.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Christoph Weiß.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
152 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518134368

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Titelbild

Yannick Müllender: Peter Weiss' "Divina Commedia"-Projekt (1964-1969): "... läßt sich dies noch beschreiben". Prozesse der Selbstverständigung und der Gesellschaftskritik.
Röhrig Universitätsverlag, St Ingbert 2007.
560 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783861104209

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