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Das 26. "Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse" widmet sich Sigmund Freuds Aktualität

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es muss auf Kant zurückgegangen werden", lautete der Schlachtruf, mit dem der Philosoph Otto Liebmann nicht nur seine 1865 erschienene "kritische Abhandlung" über "Kant und die Epigonen" sondern - leicht variierend - nicht weniger als vier von dessen fünf Kapiteln beschloss. Eine heute weithin unbekannte Schrift, die jedoch von nicht zu unterschätzender philosophiegeschichtlicher Wirkung war - bereitete sie doch dem wenige Jahrzehnte später aufkommenden Neukantianismus den Weg.

Anlässlich des 150. Geburtstages des Begründers der Psychoanalyse gibt Tilmann Habermas nun die Parole "Zurück zu Freud" aus. Ebenso wenig wie seinerzeit Liebmann redet er damit jedoch einem unkritischen Rekurs auf die Thesen, Theoreme und Praktiken von ehedem das Wort. Vielmehr verbindet er mit seiner Parole die Forderung, die Psychoanalyse möge die "klinische Klause" verlassen und sich wieder den empirischen und den Kulturwissenschaften öffnen. Inwiefern Freud trotz einiger psychoanalytischer Neuerungen auch heute noch aktuell ist, entwickelt er anhand von fünf Thesen, die im von Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer herausgegebenen 26. "Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse" nachzulesen sind, das ganz unter dem Zeichen von "Freuds Aktualität" steht.

Die in ihm versammelten Beiträge gehen auf eine psychoanalytisch-literaturwissenschaftliche Arbeitstagung zurück, die Anfang 2006 in Freiburg abgehalten wurde. Wie die Herausgeber betonen, war das Ziel der Veranstaltung nicht etwa "Freud-Eloge[n]" aneinander zu reihen, sondern Freuds "Bedeutung im geistigen Leben der Gegenwart" mithilfe einer "kritisch-aufgeschlossener und gewichtender Überprüfung" seiner Theorien und Therapien aufzuzeigen.

Zwar sind - wie könnte es bei einem psychoanalytisch-literaturwissenschaftlichen Jahrbuch anders sein - auch diesmal wieder LiteraturwissenschaftlerInnen respektive GermanistenInnen unter den Beitragenden. Thomas Anz etwa zeichnet einige der zahlreichen Spuren nach, welche die Psychoanalyse in der modernen Literatur hinterlassen hat und zeigt, dass man mit Fug und Recht sogar von tiefen Furchen sprechen kann. Doch im Unterschied zu so manchem der vorangegangenen Jahrbücher reicht das Spektrum der Wissenschaften, deren Beziehung zur Psychoanalyse beleuchtet wird, diesmal weit über die engere Literaturwissenschaft hinaus.

So geht Mitherausgeber Pfeiffer etwa dem Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik nach und Achim Würkler wirft einen genaueren Blick speziell auf die "Psychoanalytische Pädagogik der Schule". Emil Angern thematisiert noch einmal die "Herausforderung", welche die Psychoanalyse für die Philosophie darstellt und Petra Strasser nimmt die psychoanalytische Literatur zur Musik in Augenschein. Dem modernen Medium des Films gilt hingegen die Aufmerksamkeit Claudia Liebrands. Von allen Disziplinen der humanities, lautet ihre These, seien die Film Studies diejenige, deren Theorie und Vokabular am stärksten psychoanalytisch geprägt seien. Dabei bilde "die Interpretation, die Lektüre von Film" im Sinne einer "Konzipierung der kulturellen Objektivation psychoanalytischer Debatten, als Kommentar, als Gegen-, manchmal auch als Metadiskurse zur psychoanalytischen Theorie" den zur Zeit wohl "ergiebigste[n], ja de[n] explosivste[n]" Bereich an der "Schnittstelle" von Psychoanalyse und Film Studies.

Einer anderen, im wahrsten Sinne des Wortes bildgebenden Kunstform wendet sich Gerhard Schneider zu und wirft unter dem Titel "Freud und die bildende Kunst" die Frage auf, ob mit oder ohne Freud über Freud hinauszugehen sei. Freilich habe Freud "keinen systematischen Ansatz zur Entwicklung einer Psychoanalyse der bildenden Kunst" entwickelt, doch erlaube das von ihm hinterlassene "Material", "zumindest vom Ansatz einer Kunst-Psychoanalyse bei Freud zu sprechen". Zwar wolle er die von ihm aufgeworfene Frage nicht mit einem "kompromisslerischen Sowohl-als-Auch" beantworten, doch sei wohl tatsächlich beides zutreffend: "Die Kunst-Psychoanalyse Freuds ist mit einem positiven Bezug zu Freud vom Primat der psychoanalytischen Methode her kritisch-produktiv weiter zu entfalten und nicht in sich obsolet. Angesichts ganz neuer Fragestellungen wird es aber auch nötig sein, mit nachfreudschen Konzepten in einer aufgeschlossenen Grundhaltung zur Moderne des 20. Jahrhunderts und Gegenwartskunst weiterzudenken."

Wahrhaft Bilder gebend ist die inzwischen kaum noch umstrittene Kunstrichtung, der der Beitrag Stefan Börnchens gilt: der Comic. Unter dem augenzwinkernden, aber etwas irreführenden Titel "Zum Geburtstag viel Freud" geht er "Paranoia und paranoide[n] Geschlechter-Codes in 'Supermans Romance With Wonder Woman'" nach. Börnchen bietet nicht nur eine überzeugende Interpretation des Superman-Comics "Different Worlds" und dessen Kuss-Szene, sondern stellt zugleich instruktive Überlegungen zu einer "angemessene[n] Dosierung" der Paranoia als "hermeneutische[m] Heilmittel" für eine gelingende Textinterpretation an.

Als ebenso erhellend erweist sich Astrid Lange-Kirchheims Beitrag "Zur Aktualität Freuds in den Gender Studies". Lange-Kirchheim (die wie in den letzten Jahren stets auch den umfangreichen Rezensionsteil des diesmaligen Bandes betreut) rekurriert in ihrem Aufsatz insbesondere auf Christa Rohde-Dachsers "patriarchatskritische Psychoanalyse-Rezeption" und auf die Theorien Judith Butlers. Letzteres vor allem, weil der Ansatz der kalifornischen Philosophin nicht nur als "theoretisch wohl avancierteste Position" innerhalb des weiten Feldes der Gender Studies die Freud'schen Geschlechtervorstellungen "neu in den Blick nimmt", sondern weil er zudem Ilka Quindeau jüngst zum Entwurf einer psychoanalytischen Sozialisationstheorie veranlasste, der Butlers gendertheoretischen Ansatz mit Laplanches "Allgemeiner Verführungstheorie" verbindet. So gelangt Quindeau zur Konzeption einer "nicht-biologische[n] Geschlechterkonstitution unter dem Primat" des von ihr doppelt gefassten "Anderen" - "einmal als die konkreten primären Bezugspersonen des Kindes, das andere Mal als die kulturelle Ordnung selbst".

Gender-theoretisch weniger aufgeklärt als Lange-Kircheim zeigt sich Hans-Martin Lohmann. Sein Beitrag steht unter der Frage "Kann man Freud politisch lesen?". Damit ist nicht gemeint, ob man den Gründer der Psychoanalyse aus politischer Sicht lesen kann, sondern ob man ihn als politischen Autor lesen kann. Das Urteil, Freud sei ein "im Kern unpolitische[r] oder gar antipolitische[r] Kopf gewesen", könne sich zwar auf den amerikanischen Historiker Carl Schorske berufen - und, das sei hier angemerkt, auch auf Freud selbst, der seinen politisierenden Konkurrenten Otto Gross ermahnte: "Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben" -, doch will Lohmann zeigen, dass Schorske irrt und Freud tatsächlich "jener politische Autor" war, "als welchen er sich selber vermutlich nicht gesehen hat".

Auch wenn sich sein Verfasser ebenso wenig als Sexisten sehen dürfte wie Freud sich als politischer Autor, feiert der Sexismus der frühen Psychoanalyse in Lohmanns Beitrag zumindest in einigen Passagen seine Auferstehung, wie etwa Lohmanns These zeigt, dass "[a]lles Politische, im Denken, Fühlen und Handeln [...] auf einer Ökonomie des Mangels [...] last but not least, an Frauen" basiere. Frauen zählen also nicht etwa zu den (menschlichen) Subjekten, die - so Lohmann - stets Mangel leiden, sondern sind selbst Teil dieses Mangels, mithin des von Kirchheim-Lange thematisierten 'Anderen'. Und "Nur weil deine Frau nicht meine Frau ist, lässt sich nachvollziehen warum das Politische im Kern immer 'heiß' ist", erläutert der Autor als Mann dem Geschlechtsgenossen. Dieser Mangel an Frauen und anderen Dingen gebe 'dem Politischen' "eine sozusagen existentielle Basis". Das, was Freud sich als Ursprung der Kultur ausdachte - der Vatermord der Brüderhorde zum Zwecke der allgemeinen sexuellen Verfügungsgewalt über 'die Weibchen' - wird Lohmann als Mangel "last but not least, an Frauen" zum immerwährenden Movens 'des Politischen'.


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Wolfram Mauser / Joachim Pfeiffer (Hg.): Freuds Aktualität. Freiburger Gespräche, Band 26.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007.
320 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783826035951

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