Menschen, Monster, Mutationen

Der Band "MenschenFormen" demonstriert ex negativo verschiedene Facetten der Vorstellung vom 'normalen' Menschen

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand ist 'normal'. Doch gerade diese Tatsache scheint es unabdingbar zu machen, sehr genau festzulegen, bis zu welchem Grad Devianz gesellschaftlich noch akzeptabel ist, und ab welchem Punkt 'Andersartigkeit' (wie auch immer) geahndet werden muss, um zumindest den Anschein von allgemeiner 'Normalität' aufrecht zu erhalten. Dabei ist es zunächst die äußere Erscheinung, durch die Mann beziehungsweise Frau sich innerhalb der propagierten Normen positioniert - oder eher: positioniert wird. Selbst die ansonsten in fast allen Bereichen ausgesprochen deviante Gertrude Stein stellte fest, dass sie nur existiere, weil ihr kleiner Hund sie kenne. Übersetzt aus der Stein'schen Diktion heißt dies soviel wie: Erst wenn uns andere wahrnehmen, können wir uns als Subjekt konstituieren. Dass uns der viel zitierte 'Blick der Anderen' dabei jedoch auch als 'ab-normal' deklassieren und als 'Monster' stigmatisieren kann, ist die thematische Grundprämisse des von Susanne Scholz und Felix Holtschoppen herausgegebenen Bandes "MenschenFormen", in dem zehn Autorinnen und Autoren Fragen und Problemen der "Visualisierung und Normierung des Menschlichen" nachgehen.

Den Auftakt zum ersten Teil des Bandes ("Kodifizierungen - Normierungen") bildet Maren Lorenz' Beitrag "Von Normen, Formen und Gefühlen", der sich um die unterschiedlichen Definitionen des Terminus "Missgeburt" und dessen medizinische und juristische Implikationen im 17. und 18. Jahrhundert dreht. Das klingt zunächst vergleichsweise dröge - ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: Lorenz stellt anhand einer Vielzahl faszinierender Beispiele aus der juristischen und medizinischen Literatur der Zeit dar, welche Fragen die aufgeklärten Doktores beschäftigten: War ein missgebildetes Kind erbfolgefähig? War die Abtreibung eines missgebildeten Embryos strafbar? Und vor allem: Ab wann galt ein Kind überhaupt als "Missgeburt"? Waren diese Probleme für die Juristen primär theoretischer Natur, so suchten Mediziner nach den Gründen für solche Missbildungen; der dabei wohl bemerkenswerteste Ansatz ist die so genannte 'Imaginationslehre'. Demnach ist vor allem das "Versehen" schwangerer Frauen für embryonale Devianzen verantwortlich: Sollte sich eine schwangere Frau etwa erschrecken, so konnte dies fatale Folgen für ihr ungeborenes Kind haben. Das Kind einer Frau, die während der Schwangerschaft eine Kerze gestohlen hatte, musste fast zwangsläufig zum Brandstifter werden, und der bloße Gedanke werdender Mütter an monströse Deformationen konnte ebensolche bei ihrem Kind nach sich ziehen.

Um diese schließlich zunehmend als unbefriedigend erkannte Theorie modifizieren zu können, brauchten die Ärzte nach eigenem Bekunden vor allem eines: die missgestalteten Kinder. Nach deren Tod waren sie für die Mediziner zumeist nur noch untersuchenswertes Material, das zunächst präpariert und nicht selten auch in Kuriositätenkabinetten ausgestellt wurde. Der in Preußen sogar gesetzlich festgeschriebenen Pflicht, ihre toten Kinder der Obrigkeit abzuliefern, widersetzten sich allerdings viele Eltern: "Bemerkenswert ist dabei, dass der Verlust eines missgebildeten Kindes unter bestimmten Umständen dieselbe Trauer wie der Tod eines gesunden Kindes auslöste. Viele Eltern stritten mit Obrigkeit und Medizinern um eine würdige christliche Beerdigung." Mögen sich folglich auch die Erklärungsansätze für embryonale Missbildungen mittlerweile geändert haben, so erweisen sich zum Glück die Gefühle der meisten Eltern auch ihren 'nicht-normalen' Kindern gegenüber als historisch invariant.

Während Claus Zittel in der Folge "Harmonien der Täuschung" untersucht und den unterschiedlichen "Stile[n] und Praktiken der Visualisierung des Humanen in der frühen Neuzeit zwischen Kunst und Wissenschaft" nachgeht, beschäftigen sich die Herausgeber Susanne Scholz und Felix Holtschoppen in ihrem Beitrag mit der mehr als umstrittenen "Körperwelten"-Ausstellung des Plastinators und (vermeintlichen) Künstlers Gunther von Hagens. Dessen Plastinate, so die Autoren, perpetuieren seit der Antike virulente Vorstellungen von 'Schönheit', 'Normalität' ebenso wie von 'typischen' Geschlechtereigenschaften; dabei erlangen die kommunizierten Stereotype gerade durch die scheinbar wissenschaftlich-objektive Art der Präsentation den Status normativer Festschreibungen.

Natascha Brakops "Re-Shaping the Female Body. Zwischen Schönheitswahn und Körperkunst" eröffnet den zweiten Teil des Bandes: "De-Formationen - Grenzgänge". Brakops Beitrag ist insbesondere aufgrund der Behandlung der - ehedem leidlich populären - 'OP-Shows', wie etwa "The Swan" und "I Want a Famous Face" interessant, demonstriert darüber hinaus allerdings auch, welchen Problemen sich eine als aktuelle Kulturkritik verstandene Form der Wissenschaft aussetzt: Der deutlich proklamierte Aktualitätsbezug des Aufsatzes wird insbesondere dadurch konterkariert, dass die entsprechenden TV-Formate mittlerweile längst abgesetzt und (völlig zurecht) in weitgehende Vergessenheit geraten sind.

Ihre These, dass self-fashioning im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert vor allem als Adaptieren von allgemein akzeptierten Schönheitsvorstellungen zu verstehen sei, stützt die Autorin durch das Beispiel Angela Vollraths, die ihr Aussehen sukzessive dem der Barbie-Puppe anpassen lässt, und durch den Verweis auf die Operationswilligen der MTV Sendung "I Want a Famous Face", denen kosmetische Eingriffe finanziert wurden, um sie dadurch ihren Idolen ähnlicher werden zu lassen. Die im Vorwort geäußerte Feststellung, dass sich dabei "kulturelle Schönheitsideale ganz konkret auf die zumeist weiblichen Körper der Beteiligten einschreiben und ihnen eine konkrete Form zu geben scheinen" greift jedoch im Fall dieser speziellen Show zu kurz: Von insgesamt sieben 'Veränderungswilligen', die sich eher verstümmeln denn verschönern ließen, waren neben drei Männern auch ein Transsexueller, dessen Transformation in eine Jennifer-Lopez-Pastiche den tragischen Negativ-Höhepunkt der Serie bildete. Daneben wäre es gerade anhand dieses Beispiels interessant gewesen, stärker zu hinterfragen, ob durch diese Sendung wirklich normative Schönheitsideale kommuniziert wurden, oder ob nicht vielmehr das voyeuristische Interesse der Zuschauer befriedigt werden sollte. Während die 'Kandidaten' ihre 15 minutes fame mit Schmerzen und ihrem ehedem 'normalen' Aussehen bezahlen mussten, erlebten die Zuschauer einen wahrscheinlich wohligen, hoffentlich aber auch kathartischen Schauder, als sie miterleben konnten, wie sich Durchschnittsmenschen vor laufender Kamera in freaks verwandeln ließen.

In der Folge beschäftigt sich Sabine Schülting in ihrer erhellenden Untersuchung zur "Visualisierung des Monströsen im London des 19. Jahrhunderts" mit dem enormen Vergnügen des Publikums an freak shows, wobei sie vor allem auf das Beispiel des als "Elephant Man" bekannt gewordenen Joseph Merrick eingeht. Aufgegriffen wird die Thematik des "Elephant Man" auch in Sylvia Mieszkowskis Aufsatz, der sich dem "Phantasma "Elephant Man" widmet, und in dem die Autorin unterschiedliche Strategien des "othering" in Bernhard Pomerances Theaterstück "The Elephant Man", David Lynchs gleichnamigem Kinofilm, sowie dem Comic "From Hell" von Alan Moore und Eddie Campbell untersucht.

Im dritten und abschließenden Teil "Monstrositäten" beschäftigt sich zunächst Julika Griem mit verschiedenen "Affen-Figuren in narrativen und visuellen Inszenierungen zwischen 1830 und 1930" und Urte Helduser geht in ihrem Aufsatz " 'Missgeburten' und 'Zergliederer'" am Beispiel von Jean Pauls "Dr. Katzenbergers Badereise" und E.T.A. Hoffmanns "Serapionsbrüdern"" der "literarische[n] Inszenierung der 'Missgeburt' zu Beginn des 19. Jahrhunderts" nach. Beschlossen wird der Band durch Nicole C. Karafyllis Beitrag zu "Pflanzenmonstern im Film", in dem sie sich anhand des Comics und Films "The Swamp Thing" ("Das Ding aus dem Sumpf"), nicht nur mit der Vegetabilisierung von Menschen beschäftigt, sondern apropos der (zumindest vom Hörensagen) wohl bekanntesten Szene des Films "The Evil Dead" ("Tanz der Teufel") - der Vergewaltigung einer Protagonistin durch einen Baum - auch Formen der Anthropomorphisierung von Pflanzen zuwendet.

Insgesamt demonstrieren die neun in "MenschenFormen" versammelten Beiträge nicht nur die diachrone Bedeutung der Frage nach den Bedingungen des 'Menschseins', sondern führen auch vor Augen, wie gewinnbringend es sein kann, sich diesem Thema aus inter- beziehungsweise transdisziplinärer Perspektive zu nähern.


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Susanne Scholz / Felix Holtschoppen (Hg.): MenschenFormen. Visualisierungen des Humanen in der Neuzeit.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2007.
228 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783897412187

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