Einmal Venedig und zurück

Elisabeth Binders Roman "Orfeo" klingt nach Orpheus und Eurydike

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elisabeth Binder ist mit ihrem dritten Roman ein ganz großer Wurf gelungen. Die 56-jährige Schweizerin erzählt die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen Hans Bauer und der einstigen italienischen Gastarbeiterin Stella. Das geschieht so kunstvoll und anspielungsreich, in beinahe lyrischer Sprache, dass man sich in ein ruhig dahin fließendes Musikstück versetzt fühlt. Venedig, die Stadt der Liebenden, schimmert immer wieder als malerischer Handlungshintergrund durch, und zwischen den Zeilen schwingt eine Melodie von Orpheus und Eurydike mit.

Der Schweizer Textilunternehmer Hans Bauer nimmt die Rolle des modernen Orpheus ein. Er war vor vierzig Jahren - gegen den Widerstand seiner Angehörigen - für kurze Zeit mit der Gastarbeiterin Stella aus Triest verheiratet. Die Italienerin suchte bald das Weite, flüchtete aus ihrem goldenen Käfig, Bauer trauert ihr ein Leben lang nach und verschreibt sich in seiner Freizeit ganz der Natur, dem Beobachten von Pflanzen und Tieren in seinem Garten.

Als betagter Mann bricht er auf nach Venedig, um noch einmal seiner großen Liebe zu begegnen - mit dem "Geruch von vierzig Jahren Einsamkeit" im Gepäck. Als er Stella trifft, verspürt der Protagonist "dieses Altgewordensein wie nie zuvor". Aus der grazilen, hübschen Italienerin, die sich als Bild in seinem Kopf eingenistet hat, ist eine Greisin geworden, die sich auf einem Gehstock abstützt.

Die Treffen des einstigen Paares verwandelt sich für Bauer in eine erneute Niederlage, als er erfährt, dass Stella einst nach der Rückkehr in ihre Heimat viele glückliche Jahre mit dem inzwischen verstorbenen Janko verbracht hat. "Sie hatte ihn nicht nur vergessen. Sie hatte noch einmal eine wirkliche Liebe erfahren." Durch die Gespräche entsteht eine bedrückende Atmosphäre, in der sich Vertrautheit und Nähe sowie Gleichgültigkeit und Fremde wie unüberwindbare Hindernisse gegenüber stehen.

"Orpheus" Hans Bauer hat sich ein zweites Mal nach seiner Eurydike umgeschaut und reist im festen Wissen, sie endgültig verloren zu haben, von Venedig zurück in die Schweiz - desillusioniert und vom Glauben an die ewige große Liebe kuriert. Eine kleine Tragödie, ein meisterhaftes literarisches Kammerspiel. Reinhard Mey sang vor langer Zeit: "Ich wollte wie Orpheus singen, / dem es einst gelang, / selbst Steine zum weinen zu bringen / durch seinen Gesang." Auch davon ist Elisabeth Binder mit diesem äußerst sinnlichen Roman nicht weit entfernt.


Titelbild

Elisabeth Binder: Orfeo. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
168 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783608937251

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