Gewaltige Erinnerungen

Galsan Tschinags "Die neun Träume des Dschingis Khan"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungebrochen wehen Mythos und Legende um Dschingis Khan, "den ozeangleichen Herrscher" eines riesigen Mongolenreichs, auch 800 Jahre nach seiner Erhebung zum "Khan aller Khane". In seiner Heimat genießt der mächtige Reiterfürst bis heute Kult-, wenn nicht sogar Heiligenstatus.

Galsan Tschinag, Häuptling und Schamane des turksprachigen Nomadenvolks der Tuwa, einer rund 4000 Personen umfassenden Minderheit in der Mongolei, und Autor von knapp zwei Dutzend deutschsprachigen Romanen, Erzählungen und Gedichtbänden, taucht mit seinem neuen Roman "Die neun Träume des Dschingis Khan" wie zuletzt in seinem Roman "Das geraubte Kind" (2004) einmal mehr tief in die Geschichte seines Landes ein.

War es in "Das geraubte Kind" eine Legende aus dem 18. Jahrhundert, genauer aus dem Zeitraum zwischen 1732 und 1755, als die Tuwa im nordwestlichen Zipfel der Mongolei gegen die Hegemonie des übermächtigen Reichs der Mitte aufbegehrten, so ist es nun die Epoche rund 500 Jahr zuvor, als Dschingis Khan sein Weltreich gründete.

Sprachmächtig, bild- und wortgewaltig nähert sich Galsan Tschinag seinem Helden von dessen Ende her. So beginnt der Roman mit dem neun Tage und Nächte dauernden Todeskampf des greisen Khan. Ausgerechnet ein Reitunfall hatte den furchtlosen und grausamen Reiterfürsten niedergestreckt. Mit heftigen Schmerzen liegt er darnieder, während sein siegreiches Heer vergebens versucht, die noch widerspenstige, lächerlich kleine Festung der Tanguten einzunehmen.

In Fieberträumen und Wachdelirien, schwankend zwischen Ohnmacht und Hoffnung, gepeinigt von Selbstzweifeln und Ängsten, folgt der sterbende "All-Einzige Khan" in seinen die chronologische Ordnung sprengenden Erinnerungen der gewaltigen Blutspur seiner Triumphe und Niederlagen: "Das Meer von Blut, der Berg von Leichen, die Wüste von Asche. Das Überflüssige. Jeder Tropfen Blut, geflossen über den Rand der Kelle, jede Handvoll Asche, geflogen über den Rand der Schaufel, jeder Armvoll Fleisch und Knochen, gerutscht über den Rand des Troges - jedes zugefügte Leid, getreten über den Rand des Gefäßes des Nötigen, lag auf meinem Weg und wartete auf die Stunde der Vergeltung."

Eindringlich, einfühlsam und überzeugend souverän zeigt Tschinag einen gleichermaßen misstrauisch tyrannisch-harten wie unglücklich einsam-"windelweichen" Herrscher, der auf dem Weg zur Macht rücksichtslos Freund und Feind aus dem Weg räumen lässt, um schließlich als "sehender Blinder und hörender Tauber" auf dem Totenbett zu erkennen: "Angst kommt auf Befehl, nicht aber Vertrauen".

Tschinag, 1943 als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie im Altai im Westen der Mongolei geboren, fasziniert seit einem Vierteljahrhundert mit kraftvoll archaischen Büchern von gleichermaßen erhabener wie schlichter Schönheit. Mit den "neun Träumen des Dschingis Khan" gelingt dem "Moses von Ulanbator", wie Tschinag sich selbst einmal nannte, die eindrucksvolle Rettung einer schillernden Herrschergestalt vor dem Folklorebild seiner anbetenden Verehrer, eine beeindruckende Verlebendigung des sagenumwobenen Standbildes.

Etwa zeitgleich legt der Chamisso- und Doderer-Preisträger (1992 und 2001) Tschinag zwei weitere Publikationen vor, die die beeindruckende Spannbreite seines Schaffens erneut dokumentieren. Im "insel taschenbuch" ist ein schmales Bändchen "Liebesgedichte" gegen die "poesiefeindliche Zeit", wie Tschinag im Nachwort schreibt, erschienen. Wie etwa in "Alle Pfade um deine Jurte" (1995), in "Wolkenhunde" (1998) oder "Jenseits des Schweigens" (2006) sind kraftvolle Bilder von klassischer und schlichter Schönheit, mit einer tiefen Achtung vor der Natur entstanden, etwa wie dieses: "Gras mag verdorren / Gar brennen / Bis an die Wurzel / Bleibt aber Gras / Unvernichtbar / Fällt nur / Ein reichlicher Tau / oder ein spärlicher Regen / Schon keimt es / Aufs neue / sanft und samtig grün / Unvertilgbar ist es / Wie der Urstoff / Wie dessen Widerschein / Aus unserer Tiefe / Die Hoffnung, wie / Anderes eigentlich auch / Gras steht für alles / Darum steh ich / Auf Gras".

Einblicke etwa in die Leipziger Studentenzeit, Begegnungen mit dem verehrten Freund und Lehrer Erwin Strittmatter, Gedanken und Reflexionen über den Jahreslauf, Impressionen über "Begegnungen und Abschiede", wie ein Kapitel überschrieben ist, versammelt Tschinag in seinem anderen Bändchen "Auf der großen blauen Straße". Herausgekommen sind Mosaikteile eines faszinierenden Lebensbildes, dessen Tiefe und Vielschichtigkeit der Romancier in den autobiografischen Romanen "Der blaue Himmel" (1994), "Die graue Erde" (1999) und "Der weiße Berg" (2000), wie auch der Lyriker in seinen Gedichten deutlicher - weil stärker poetisch verdichtet - erscheinen lässt. Dennoch sind auch in "Auf der großen blauen Straße" eindrucksvolle Erinnerungsbilder entstanden.


Titelbild

Galsan Tschinag: Auf der großen blauen Straße.
Unionsverlag, Zürich 2007.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783293003712

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Galsan Tschinag: Die neun Träume des Dschingis Khan. Roman.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
251 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783458173366

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Titelbild

Galsan Tschinag: Liebesgedichte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
112 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783458349648

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