Von Sehnsüchten und Weltstädten

Dionne Brands dritter Roman, "Wonach sich alle sehnen" setzt sich mit dem kanadischen Ideal des Multikulturalismus kritisch auseinander

Von Anca-Raluca RaduRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anca-Raluca Radu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Toronto ist die Metropole im Osten Kanadas, deren kulturelle Vielfalt und Vielschichtigkeit kaum zu übertreffen sind. Stadtviertel mit Namen wie Little Italy, China Town oder Corea Town bestimmen die Geografie Torontos, dessen Name selbst indianisch ist (Tkaronto) und den Ort beschreibt, an dem die Mohawk-Indianer ihre Fischwehren gebaut hatten (wörtlich: der Ort, an dem Bäume im Wasser stehen). Die Stadt beeindruckt durch ihr mannigfaltiges Kulturleben, eine blühende Wirtschaftskraft, ihre postmoderne Architektur - aber ganz besonders durch ihre Dynamik und ihren einmaligen Charakter, durch ihre Seele. Diese Seele ist es, welche die Schriftstellerin Dionne Brand in ihrem Roman "Wonach sich alle sehnen" einzufangen versucht.

Dionne Brand wurde 1953 in Trinidad geboren und zog im Alter von siebzehn Jahren nach Toronto, wo sie studierte und sich gleichzeitig politisch in anti-rassistischen, anti-kolonialistischen und feministischen Bewegungen engagierte. Nachdem sie sich primär als Lyrikerin etabliert hatte, erweiterte sie ihr Genrerepertoire, so dass sie nicht nur als Lyrikerin, sondern auch als Kulturkritikerin und Autorin von Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Dokumentarfilmen von sich reden machte. Zu ihren Auszeichnungen zählen der Governor General's Award for Poetry und der Trillium Award for Literature (beide 1997).

Nach "In Another Place Not Here" (1998) und "At the Full and Change of the Moon" (1999) ist "Wonach sich alle sehnen" ("What We All Long For", 2005) ihr dritter Roman. Während sich die ersten beiden Bücher mit Aspekten der Geschichte der Schwarzen aus der Karibik beschäftigen, verfolgt ihr neuestes Werk die Schicksale von vier jungen Menschen aus Toronto, deren Familien einen unterschiedlichen Migrationshintergrund haben. Die Protagonisten, Tuyen, Carla, Oku und Jackie, gehören zu den so genannten visible minorities, die laut neuester Statistiken in manchen Teilen Torontos über 50% der Bevölkerung ausmachen und nur noch in den Augen der Weißen als Minderheit erfasst werden können. Im Roman heißt es: "Man nenne irgendeine Region auf dem Planeten, und hier ist jemand, der von dort kommt. Alle sitzen sie auf dem Land der Ojibway, aber kaum einer von ihnen weiß das oder schert sich darum, weil diese Genealogie vorsätzlich unaufspürbar ist, bis auf den Namen der Stadt selbst".

Brand selbst hat sich oft zu den politisch korrekten Bezeichnungen für die nicht-weißen Kanadier, die im Rahmen der Politik des Multikulturalismus immer neu erfunden und gewertet werden, geäußert. Sie besteht darauf, dass diese Bezeichnungen nur für diejenigen eine Bedeutung haben, aus deren Perspektive sie entstanden sind - nämlich für die weiße Bevölkerung. Brand empfiehlt deswegen den weißen Kritikern ihrer Werke, sich im Bereich des black writing zu bilden, um sich zu vergegenwärtigen, was das Selbstverständnis der Schwarzen ausmacht, die sich nicht als sichtbare oder nicht sichtbare Minderheit, als Alterität (other) oder Randgruppe (margin) definieren. Diese Äußerungen werden auch in der postkolonialen Kritik und Theorie vertreten, besonders in den Schriften Bill Ashcrofts, Gareth Griffiths und Helen Tiffins, die wiederholt anmerken, dass der Terminus "postkolonial" sich nicht auf das Ende, sondern auf das Weiterbestehen kolonialer Verhältnisse in unserer Gesellschaft bezieht.

"Wonach sich alle sehnen" überzeugt unter anderem durch die Fähigkeit Brands, diese postkolonialen Kategorien der Alterität in Frage zu stellen und zu dekonstruieren. Dies geschieht vor allen Dingen durch die Personenkonstellation. Die vier jungen Protagonisten sind in Kanada geboren, sind also Kanadier der zweiten Generation und empfinden sich nicht als Randgruppe. Die am besten konturierte Figur ist Tuyen, die jüngste Tochter der in den 1970er-Jahren aus Vietnam geflüchteten Familie Vu. Zusammen mit ihrem Bruder Binh fingiert sie als Sprach- und Kulturvermittlerin für ihre Eltern und ihre älteren, noch in Vietnam geborenen Schwestern. Die Erwartungen der Familie an die beiden echten Kanadier, Tuyen und Binh, sind groß und werden von Tuyen enttäuscht, weil sie sich dafür entscheidet, als freie Künstlerin in der College Street im Herzen Torontos zu leben, anstatt die materiellen Vorteile des Elternhauses zu genießen. Tuyens Familie positioniert sich in der neuen Heimat in eine Randsituation, indem sie einige von der weißen Gesellschaft etablierten Klischees bestätigt: Die Vus eröffnen ein asiatisches Restaurant und ziehen anschließend nach Richmond Hill, das Viertel der reich gewordenen Immigranten. Tuyen rebelliert gegen die traditionelle Lebensweise ihrer Familie und geht in die Kunstszene, in der sie sowohl ihr alternatives Kunstverständnis als auch ihre Homosexualität ausleben kann. Zu ihrem Freundeskreis gehören ihre Nachbarin Carla, in die sie verliebt ist und der man nicht ansehen kann, dass ihr Vater ein Schwarzer ist; Jackie, die als Kind mit ihren farbigen Eltern aus der kanadischen Provinz Nova Scotia nach Toronto gezogen ist und krampfhaft versucht, ihren Lebensstil an das von der TV- und Popkultur vermittelte Bild von Toronto anzupassen; und Oku, ein schwarzer Literaturstudent und Dichter, der von seinem Vater unter Erfolgsdruck gesetzt wird und dessen Liebe zu Jackie nicht erwidert wird.

Die Freunde merken schon in der Schule, dass ihnen die Welt der weißen Schüler, in die sie sich nach dem Wunsch ihrer Eltern integrieren sollten, verschlossen bleibt, insbesondere, weil sie sich mit deren Zielen und Strukturen nicht identifizieren können. Diese Welt betrachten sie nur von außerhalb, "hauptsächlich als Zuschauer der weißen Kids in der Klasse". Diese Perspektive gibt ihnen "das Gefühl, in zwei Dimensionen zu leben, den Blick eines Menschen, der am Rande steht, an der Tür, und auf alles lauscht", wie es bei Brand heißt. Während sich ihre Eltern der alten Heimat verbunden fühlen und sich an das neue Land nicht anpassen können, entscheiden sich ihre Kinder bewusst dafür, ihre eigene Welt zu kreieren, was ihnen durch die Offenheit ihrer Stadt ermöglicht wird: "Sie saßen da, tranken und fühlten, betrachteten den Regen, der immer noch fiel, und lauschten dem Hupen und dem Geklapper von Besteck und Geschirr um sich herum. So beunruhigend es war, wie sie alle lebten, so fühlten sie sich lebendig. Lebendiger, dachten sie, als die meisten Menschen hier. Sie glaubten daran, an dieses Leben. An seine rohe Offenheit. Die Straße da draußen, ihr Chaos, sahen sie als ihre einzige Hoffnung. Sie empfanden die Gewalttätigkeit dieser Stadt und ihre Glut in einem einzigen Gefühl".

Tuyen wird dem Leser als Chronistin der Stadt präsentiert. Ihre Installationen stellen das Leben, die Geschichten, die Wünsche, die Sehnsüchte, die Enttäuschungen und Freuden der Bewohner der Stadt, inklusive ihrer Freunde und Familie dar: "Ja, das war die Schönheit dieser Stadt, sie war ein polyphones Raunen. Das war das, was Tuyen immer mit Hoffnung erfüllte, das, worum es ihrer Meinung nach in ihrer Kunst ging - die Darstellung dieser Ansammlung von Stimmen und Sehnsüchten, die sich zu einer Art Sprache summierten, doch unbeschreiblich blieben".

Der Titel des Romans nimmt zum Bezug auf eine ihrer Installationen, in der Tuyen die erfragten Wünsche der Kunden im Laden ihres Bruders transkribiert und aufhängt. Der englische Titel des Romans, "What We All Long For", ist durch die Verwendung der ersten Person Plural "wir" stark darum bemüht, den Leser zur Identifikation mit den Figuren des Romans zu ermutigen. Dies ist auch für die Definition der durch das Pronomen "wir" suggerierten Gemeinschaft relevant, welche über die Grenzen der Ethnizität, des gender, Land und Hautfarbe hinausgeht. Die Verwendung des Pronomens "wir" ist umso auffälliger, als die Geschichten der vier Freunde in der dritten Person von einem auktorialen, allwissenden Erzähler wiedergegeben werden. Oft werden Passagen in den Text eingeflochten, in denen die Gedanken der Hauptfiguren aus ihrer Perspektive von einem Personalerzähler dargelegt werden. Dies ist als erzähltechnische Strategie anzusehen, die dazu dient, die monologische Stimme des auktorialien Erzählers zu untergraben und die Figuren selbst zu Wort kommen zu lassen. Anders als in ihren restlichen Werken greift Brand hier nicht auf das Register der Mündlichkeit - des demotic - zurück, welcher in den früheren Romanen und Gedichten die Invidualität der Figuren bestimmt und ihre karibischen oder schwarzafrikanischen Ursprünge klar signalisiert.

Allerdings besteht der Roman zudem aus einem zweiten Erzählstrang, der sich als Parodie etablierter Erzählmuster gestaltet, nämlich eines mythologischen (der Odyssee) und eines biblischen (der Rückkehr des verlorenen Sohnes). Dieser Erzählstrang wird von einem Ich-Erzähler getragen, nämlich Quy, der Bruder Tuyens, der bei der Flucht der Eltern aus Vietnam verloren gegangen ist. Dieses Unglück hat verheerende psychologische Folgen für seine Eltern, die den Verlust nicht überwinden konnten. Quy ist ein Antiheld, der eine Odyssee bestreitet, während der er sich durch vornehmlich negative Eigenschaften auszeichnet, wie Skrupellosigkeit, Egoismus, Gefühllosigkeit und Unmenschlichkeit. Er warnt den Leser davor, mit ihm Mitleid zu haben, und nimmt sich vor, sich an seinem Bruder Binh für den Wohlstand zu rächen, den er durch seine ungewollte Trennung von der Familie entbehren musste. Quy wendet sich mit seiner ernüchternden Lebensgeschichte, die sich als Überlebenskampf gestaltet und die ihn endlich nach Toronto führt, wo sich seine Stimme in die des auktorialen Erzählers verliert, direkt an den Leser.

Die Stimme des Erzählers scheint aber ihrerseits am Ende des Romans nicht mehr dem Erzähler zu gehören, sondern der Stadt Toronto, die über die Schicksale aller Personen übermächtig herrscht. Die Protagonisten des Romans lieben die Stadt mit ihren Widersprüchen und erkunden sie unermüdlich, ob mit dem Fahrrad wie Carla, die Postkurier ist, oder mittels Fotografien und Installationen wie Tuyen. Brands Sprache wird dann besonders poetisch, wenn die Straßen und Viertel Torontos beschrieben werden. Toronto ist nicht die saubere, weiße Wirtschafts- und Kulturmetropole, sondern eine polyphone, bunte, bebende Stadt, welche die verschiedensten Schicksale vereint: obdachlose Luftpianisten und Propheten, Prostituierte und zwiespältige Geschäftsleute, Graffitikünstler und Clubbesucher, Studenten und Postboten, Reiche und Arme, Hetero- und Homosexuelle, Weiße und Farbige. Ob man sich im Milieu oder im Geschäftsviertel bewegt, überall begegnet man dem machtvollen Zauber der Stadt.

Brand hat einen komplexen und lesenswerten Roman geschaffen, der zugleich durch seine politische Programmatik und seinen poetischen Ton begeistert und überzeugt. Ohne didaktisch oder moralisierend zu wirken, zeichnet das Buch die Gefahren der Schwarzweiß-Malerei auf, in einer Welt, die viel mehr Farbe zu bieten hat.


Titelbild

Dionne Brand: Wonach sich alle sehnen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Müller.
Atrium Verlag, Zürich 2007.
384 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783855350407

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