Gefräßig

Alfred Döblins Roman „Wallenstein“ – eine Provokation der Geschichte

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Nicht noch einmal soll die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Geschichte als Wechselspiel von fiktivem Roman hier, faktischer Geschichtsschreibung dort abgehandelt werden; nicht noch einmal soll ein literarischer Text, der sich in ungewöhnlichem Umfang historischen Quellenmaterials bedient und mit Faktizität aufgeladen scheint, historiografischen Texten gegenübergestellt werden, die durch ihre Rhetorik, durch ihre Erzählstrategien und Selektionsmechanismen sich einen fiktiven Gegenstand konstruieren, ohne es zu merken. Das hat Hayden White bereits einleuchtend getan und darauf hat schon Alfred Döblin in seinem Vortrag über „Schriftstellerei und Dichtung“ von 1928 explizit hingewiesen. Nicht noch einmal also.

Sofern Roman und Historie in Döblins „Wallenstein“ aufeinandertreffen, so tun sie es weniger in der Tiefe der Zeit, als vielmehr in der Tiefe des Körpers. Der Ort dieser Begegnung hat dabei einen genauen Namen: Es ist der Magen. Döblins Problem ist ein Magenproblem, und das ist zuallererst buchstäblich zu verstehen. Denn es war ja ursprünglich ein außerordentlich renitentes, ja „chronisches Magenleiden“, eine Döblin selbst ganz mysteriöse Magenaffektion, die ihn 1916 zu einer Kur nach Bad Kissingen zwang, woselbst sich anschließend jene berühmte Vision einstellte, die dem Roman als wie eine Feuersäule vorangehen sollte: Gustav Adolf mit seinem Flottenverband auf hoher See gen Usedom segelnd. 1917 war es dann erneut eine Magen-Erkrankung, die Döblin, nun im Verbund mit Typhus, nach Heidelberg führte und ihm damit gewissermaßen die Türen der Universitätsbibliothek öffnete; und endlich waren es die leeren Mägen Dritter – nämlich die der Patienten in Heidelberg –, die Döblins Verhältnis zur ansässigen Ärzteschaft so nachhaltig trübten, dass er nach Hagenau wechselte – mit dem günstigen Nebeneffekt, jetzt die historiografische Speisung in Straßburgs Universitätsbibliothek empfangen zu können. Kurz und gut, Döblins Magen ist das Antriebsaggregat des epochalen Romans, und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges ist dem Autor vor allem das Produkt einer „verfluchte[n] Magendarmgeschichte“.

Dass dieser biografische An- besser Aufstoß des „Wallenstein“ durch den Magen seines Autors nicht ohne vernehmliche Geräusche und Resonanzen im Roman selbst geblieben ist, das belegt das berühmte Eröffnungstableau: Ferdinands II. Siegesbankett. Es demonstriert Geschichte aus der Perspektive der Sieger und die Perspektive der Sieger als Perspektive des Magens samt der zugehörigen An- und Abliefervorgänge. Denn die Schlacht, die da gerade erfolgreich geschlagen worden ist – der Sieg über die aufständischen Böhmen am Bilá hora vom 8. November 1620 – kehrt jetzt, beim Bankett, wieder im verbissenen Kampf von schnell und brutal agierenden Zahnreihen gegen die ohnmächtigen, tafelfertig angerichteten Schlachttiere: Fasan, Huhn, Wildschwein. Das Festmahl stellt im Rhythmus des Kauens, Knabberns, Beißens, Reißens, Mahlens und Malmens die militärische Auseinandersetzung als orale Attacke und züngelnde Vernichtung nach. Deshalb gleichen die Lippen des Kaisers wilden Piraten, die die Kriegsschiffe und Transporter – also die gefüllten Teller und Terrinen der Hofküche – plündern, den feindlichen Nachschub kapern, missbrauchen, eklig mit Speichel zersetzen, durch die Zunge in Position schieben, um die Beute in den Schlauch der Verdauungswege zu expedieren, an die kontraktierende Peristaltik des Magens weiterzuleiten und in den niederen Regionen des Körpers, in den Kloaken der sabbernden und träufelnden Ausscheidungs- und Amalgamierungsorgane verschwinden zu lassen. Verschlingen, soviel ist klar, heißt Sieger zu sein.

Und was verschlungen wird, repräsentiert die Opfer. Den Fasanen wird da mit „rascheren Zähnen“ – also mit den härtesten Waffen, die unser Körper hat – nachgejagt wie zuvor den fliehenden Böhmen; das Federvieh ist frisch gemetzelt und liegt angerichtet wie zur Beerdigung, nicht zum Gastmahl: „Die Hühner erschlagen; auf Silberschüsseln gebahrt; von feinen weißen Kerzen beleuchtet.“ Ihre von Kandis verklebten Schnäbel sind das gastrosophische und gastrische Gegenbild zum geronnenen Blut im Mund der Toten, und die Mandelmilch, in der sie schwimmen, ist die kochtechnische Sublimierung des Schlamms auf dem Prager Schlachtfeld. Da wundert es nicht, dass in gespenstischer Wiederkehr der noch nicht ganz verdaute Mageninhalt der just vollbrachten Geschichte aufstößt und sich, schon durchsäuert, einmal noch in und durch den Raum ergießt: „Prächtig zerhiebene Pfälzerleichen, Rumpf ohne Kopf, Augen ohne Blicke, Karren, Karren voll Leichen, eselgezogen, von Pulverdunst und Gestank eingehüllt, in Kisten wie Baumäste gestaucht, kippend, wippend, hott, hott durch die Luft.“

Repräsentiert also in Döblins Eröffnungsbankett die feste Nahrung, das Gesottene, Gekochte, Gebratene, Geröstete, in Stellvertretung das frisch verschlungene Böhmen, so vertreten die Weine, die hier kredenzt werden, als feuchte und flüssige Abgesandte eben jene Länder, in denen Habsburg das Sagen hat: der Malvasier, den man sich hier als aus Malaga oder Xeres vorzustellen hat, und der nur in kleinen Mengen konsumierbare Alicante als Gesandter Spaniens, der Podskal aus dem frisch gerupften Böhmen, Bisamberger und Traminer aus der Grafschaft Tirol, der Molsheimer aus dem Bistum von des Kaisers Bruder Leopold, nämlich Straßburg, der Andlauer aus den habsburgischen Besitzungen im Elsaß, der Most aus der Pfalz, in der kein Friedrich mehr waltet. Der Herrschaftsbereich ist tafelfertig serviert und frisch aktualisiert.

Überhaupt ist das Arrangement des ganzen Banketts von Döblin dem 17. Jahrhundert genau angepasst und trägt dem kulinarischen Paradigmenwechsel Rechnung, der sich kurz zuvor ereignet hat: wie hier gespeist wird, das ist weniger auf Hierarchie angelegt als auf Repräsentation. Die Augen essen mit und das üppige Mahl spiegelt sich in den bewundernden Blicken der anwesenden Potentaten („Die Blicke von zwanzig Gewaltherren und Fürsten voll Lobs auf sie gerichtet“). Derlei opulentes Getafel wurde um 1600 gerne dem Fußvolk im Schlosshof vorgeführt. Essen ist Repräsentation; Repräsentation der Macht, die es sich leisten kann. Und die sich über dem Schmaus kräftigt, bekräftigt und bestätigt.

Deshalb die Aufzählung der Tischgesellschaft: Der ganze Hof, also die politischen, religiösen und militärischen Granden und Repräsentanten des Reiches bis hin zu Truchsess und Mundschenk vereinigt sich über dem gemeinsamen Mahl zu einem Rondo des Knirschens, Schabens und Knusperns: „Der schlaue Abt von Kremsmünster wie der Kaiser, der Fürst von Eggenberg, der Liechtensteiner wie der Kaiser, der Oberstsilberkämmerer, der Oratoriendiener, der Truchseß, Vorschneider, Tapetenverwahrer, Küchentürsteher wie der Kaiser, Marchese Hyacintho di Malespina, Ugolino die Maneggio, Thomas Bucella, Christoph Teuffel, der Organist Platzer wie des Heiligen Römischen Reiches alles übersteigende gesalbte Kaiserliche Majestät, in einem Takt raspelnd an einer Waffel.“

Was ansonsten als Interieur, als Ausstattung, als Detail im historischen Roman schmückendes Beiwerk ist, Lokalkolorit oder Bühnenrequisit: die Tafel, die Speise, die Kleidung, der Hofstaat, das Küchenpersonal, das wird von Döblin dynamisiert und erhält seinen genauen Platz. Essen und Trinken sind im „Wallenstein“ geografische, ökonomische, gastrosophische und soziale Markierungen von Macht. Wer keine Macht mehr hat, hat auch nichts mehr zwischen den Zähnen. So der Pfalzgraf Friedrich, der sein Leid bänkelbesingt: „Keiner da, der mir was zu fressen gibt? Zehn Kinder und kein Ende, keiner da, der uns den Bauch stopft? Habe die englische Königstochter zur Frau, in Böhmen war ich König; das freut‘ mich armen Hansen wenig.“

Schließlich hat das Motiv des Essens und des Magens bei Döblin nicht nur die Funktion, die niedere Gewalt des Krieges nachzustellen, Herrschaftsgebiete zu stempeln und die Einigung im kaiserlichen Hause anzuzeigen, sondern endlich auch die, einen monströsen Willen zu immer weiterer Verschlingung zu demonstrieren. Seit je ist der knurrende Magen beim Menschen nicht nur das Signal animaler Rest-Reaktionen, sondern auch der untrügliche Hinweis auf seine Verfasstheit als Mangelwesen. Woraus das Recht oder die Notwendigkeit abgeleitet wird, den Mangel zu kompensieren, den Hunger zu stillen, die immer wieder eintretende Leere zu füllen. Bei Döblin hingegen ist diese Magenbewegung des ‚immer wieder‘ kein anthropologisches Erfordernis, sondern ein imperialistischer und politischer Akt, der Ort eines permanenten Eroberungstriebes. Der Magen ist ihm die Metonymie des Imperators, ein also imperiales Organ, und deshalb heißt es im Text: „Oh, wie schmeckten die gebackenen Muscheln, die Törtchen und Konfitüren Seiner Königlichen Majestät. Schand und Schmach, daß einer Graf, Fürst, Erzherzog, Römischer Kaiser werden kann und der Magen wächst nicht mit; die Gurgel kann nicht mehr schlucken, als sie faßt […].“ Der Wunsch geht hier auf eine unendliche Gastrektasie.

Tatsächlich durchzieht das Motiv von gierigem Magen und gefräßigem Maul den Roman auch weiterhin. Von Wallenstein mutmaßt man in Böhmen: „Er werde sich rächen an Böhmen, indem er es verschlinge, er hat einen grossen Rachen, zweitausend Meilen haben noch Platz. Verschlingen.“ Die Schweden wissen vom Habsburger Herrscher Ferdinand, „daß er nichts sei als ein gierig weites Maul und das sündhafte Restitutionsedikt das Tranchierbesteck, mit dem er sich den Braten zurecht machen wolle.“ Den französischen Gesandten gegenüber vermeldet Gustav Adolf über sich selbst: „Ja er wüßte, daß sie ihn fürchteten, sei wohl der Gottseibeiuns für sie, fräße und verschlucke sie, es sei ein Spaß.“ Jeder kann hier offensichtlich zum Maul der Geschichte werden, jeder zur Speise natürlich auch. Wie denn bei Döblin Historie selbst als noch nicht zu Ende verdautes, ambivalentes Magenprodukt verstanden wird: „Eine Zeit ist immer ein Durcheinander verschiedener Zeitalter, ist durch große Abschnitte hindurch undurchgoren, schlecht gebacken, trägt Rückstände anderer Kräfte, Keime neuer in sich.“

Der Magen also, dieser seltsame Salzsäurebehälter im menschlichen Körper, ist erstens der äußere Anlass des Romans; dann zweitens ist er eine bedeutende Metapher für das, was im „Wallenstein“ unter „Geschichte“ verstanden wird: als ein Vorgang des Verschlingens, Verschluckens und Verdauens, wie denn Wallenstein selbst zum Schluss „eingeschlürft“ wird von den dunklen Gewalten geschichtlicher Magensäfte. Drittens aber ist das Zusammenspiel von Nahrung und Magen auch Chiffre für Döblins eigentümliche Technik, derlei Romane überhaupt entstehen zu lassen. Denn es mussten ja tatsächlich Berge von Büchern, wie man so sagt, verschlungen und diverse Bibliotheksweiden abgegrast werden, um das gewaltige Opus entstehen zu lassen. Ob Droysens „Gustav Adolf“, Försters „Wallenstein als Feldherr“, Hainhofers „Reisen“, Heilmanns „Kriegsgeschichte von Bayern“, Khevenhüllers vielbändige „Annales“ bis zu Hans von Zwiedineck-Sündenhorsts Buch über Eggenberg, sie und viele mehr landeten auf dem bibliophagem Speisezettel des Romanciers. Döblin liebt dieses Material vor allem, wie er explizit vermerkt: roh, nicht gekocht; manchmal nippt er nur „mit kleinen Schlucken“ vom historischen Trank, mal sieht er sich förmlich in den üppig fließenden Vorlagen „planschen“, mal scheint ihm sein Material zur vollständigen Verzehrung bestimmt: so, wie nach Wilhelm Heinse das Feuer das Schicksal des Holzes ist. Am ehesten aber ist seine Technik wohl tatsächlich eine reine Magentechnik in jener besonderen Variante, die den Ruminantiae eigentümlich ist: in der Form des Wiederkäuens nämlich. Drei Mägen wohnen, ach, in seiner Brust. Wiederkäuen aber ist eine Technik der Nahrungsaufnahme, die im Raum der Schrift aufs engste einer Vorform der Montage verwandt ist, nämlich dem Kopieren. Denn Kopieren heißt, das bereits Schrift Gewordene nochmals dem Zerkauungs- und Verdauungssystem des Schreibens zuzuführen. „Und es ist mir so gegangen, als ich dieses oder jenes historische Buch schrieb“, so Döblin, „daß ich mich kaum enthalten konnte, ganze Aktenstücke glatt abzuschreiben“ – glatt wiederzukäuen, möchte man dazwischenrufen. Kaum vorstellbar, dass Döblin, der ja Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ außerordentlich gut kannte, die Magenlehre des Berg-Predigers im Vierten Teil entgangen sein sollte. Es heißt da: „So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen.“ Der kluge Bettler setzt prophetisch nach: „Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los.“ Wiederkäuen ist ein Akt der Erlösung des Menschen durch den Magen. (Das Wort Montage enthält das Wort Magen übrigens als Anagramm).

Tatsächlich versetzt Döblin seine historiografische Nahrung mit den auflösenden Enzymen und spaltenden Fermenten seiner ästhetischen Vorverdauung; prompt verlieren sie das Aussehen geschlossener, gebundener, Bedeutung stiftender Objekte. Auf der Oberfläche historischer Texturen heißt das zuerst, dass die Figuren ihren historischen Auftrag verfehlen. Weder kann Wallenstein seine Militäraristokratie zu Friedenszwecken, noch kann Ferdinand II. sein Rekatholisierungsprogramm durchsetzen; das letzte Wort behält bei Döblin bekanntlich der Krieg. Aber auch die Verständigungsprozesse, die dergleichen organisieren helfen sollen, sind bereits seltsam aufgeweicht. Sinnvolle und eindeutige Botschaften erreichen hier kaum einmal jemanden; sie sind wie um ihren Kopf gekürzt. Endlos die Depeschen, Briefe, Kuriersendungen, Anweisungen, Instruktionen, Denkschriften, die leerlaufen, abgefangen, verdreht oder gelöscht werden. Dazu tritt exuberant die Diplomatie mit Ihren Techniken der Allusion und Ellipse, Techniken also, die auf dem Aussparen und Vorenthalten von Zeichen beruhen. Das führt im Roman zu einer fundamentalen Interpretationshysterie. Die Verständigungswege sind wie infiziert. Döblin liebt derart angedeutete und abgerissene, unvollständige Kommunikation wie etwa in folgender Replik Trautmannsdorfens: „[…] nun hätte man den Zankapfel in der konzentriertesten Form, alle Kräfte würden aufgerufen, und – nun, man würde sehen.“ Dazu kommt dann, dass Döblin dergleichen Halbgegorenes in die Magensäure der indirekten Rede einlegt – nicht, um Distanz zu wahren, sondern um den provisorischen, partikularen und infiniten Charakter der Reden zu unterstreichen. Der Konjunktiv allein macht spürbar, wie stark die Aussagen von der Situation, den Affekten, den bewussten und unbewussten politischen wie psychologischen Abhängigkeiten gesteuert und also fraglich sind.

Indem die Texte im Prozess ihrer Fermentierung Bedeutung und Aussage zusehends verlieren, wird im Gegenzug ihr Materialcharakter desto stärker betont, und das heißt für Döblin: ihr Sprachcharakter. Der aber macht sich nicht gegen die Aussage und ihr formales Korsett, die Syntax, geltend – siehe Futurismus, siehe Stramm – sondern in ihr. Sein auffälligstes Mittel ist die Aufzählung; Döblins Ästhetik ist eine Ästhetik des Enumerativen. Und hat zur Folge, dass der nach logischen Regeln sich organisierende, durch disjunktive Zeichen artikulierte Satz zu einem formalen Behälter mutiert, in den die Aufzählungen wie Futter und Nahrung – Döblin verwendet selbst einmal dieses Bild – zugeschüttet und eingefüllt werden können. Berge von Substantiven, Pfuder Attribute, säckeweise Partizipien oder Prädikate. Zwar handelt es sich zumeist um abgezählte Erbsen: vor allem um drei oder fünf Elemente, aber auch zwei, vier, sechs, sieben oder mehr finden zusammen.

Der Gliederungszustand, in den Döblin das Aufgezählte und syntaktisch Einverleibte im „Wallenstein“ versetzt, ist unterschiedlich, ohne dass eine sich durchhaltende Regel erkennbar wäre: mal sind die einzelnen Elemente nur durch Leerzeichen voneinander abgehoben, mal teilweise, mal durchgehend durch Kommata disjunkt geschieden, mal durch Attribute ergänzt. Als ob der Gliederungsprozess noch nicht ganz zum Abschluss gekommen oder unwichtig sei. Untereinander sind die aufgezählten sprachlichen Einheiten durch Alliterationen, Assonanzen, Binnenreime oder schlicht durch das gemeinsame Wortfeld verzahnt, dem sie entstammen. Wird eingangs zu Ferdinands oralen Gelüsten die Prädikatenkette gebildet: „Kaute, knabberte, biß, riß, mahlte, malmte“ – das Subjekt „Er“ ist ostentativ elidiert –, so wird hier nicht schlicht das Essen konkretisiert, sondern auf die unterschiedlichen Zahngruppen verteilt: „kauen und knabbern“ tun die Schneidezähne, „reißen und beißen“ ist Aufgabe der Eckzähne, „malmen und mahlen“ ist das Werk der breiten Backenzähne. „Kaute, knabberte“ lässt durch die Konsonanten um das Phonem /k/ das Geräusch des Brechens onomatopoetisch aufklingen, „biß, riß“ evoziert in der Kürze und raschen Verdopplung zweier vollständiger, reimhaft verknüpfter Seme die Schnelligkeit, mit der die Zähne einschlagen, „mahlte, malmte“ tut seine Arbeit durch die fingierte Morphemwiederholung von ‚mahl‘/‘malm‘, welche die Insistenz des Vorgangs, unterstützt durch die langen und gedehnten /a/-Vokale, eindrücklich unterstreicht. En bloc zeigt die Aufzählung beispielhaft, was Roman Jakobson als die Projektion des Paradigmas von der Ebene der Selektion auf die Ebene der Kombination bezeichnet hat – unterschiedlichste Verben des Terms ‚essen‘ dürfen syntaktisch hintereinander treten, wo doch normalerweise nur ein einzelnes aus eben der ganzen Reihe selektiert würde. Dito die Phoneme, Morpheme und Seme. Diese Spürbarkeit heißt für Jakobson Kunst. Kunst heißt, dass die Wörter dem Satz schwer im Magen liegen.

Konsequent hat Döblin in „Der Bau des epischen Werks“ von 1929 und in Rückschau auf den „Wang lun“ und den „Wallenstein“ denn auch die größeren Konstruktions-Einheiten des Romans nicht auf Aussageeinheiten zurückgeführt, sondern auf musikalische Perioden, rhythmische Proportionen und architektonische Gliederungen. Schrift entsteht also nicht als diskursive Linie, sondern entzündet sich um eine Vision, die in einer Art Rückstau die Textquantitäten, Tableaus und Figurenkonstellationen der Kapitel und Episoden bestimmt – ein Prozess, der von Döblin bekanntlich dem Verhältnis von Mutter und Kind parallelisiert wird. Der Autor ist dabei beides zugleich, passiv und aktiv, Nahrung besorgend, Nahrung begehrend, vom Material angezogen und zurückgewiesen. Und entfacht in dieser ambivalenten Operation von energetischem Schub und kontrollierender Auflage einen Prozess, der im Roman dem Leser als eben Prozess selber entgegentreten soll. Es ist schwierig, mit wenigen Worten hier eine – mögliche – Perspektive anzudeuten. Sicher ist es Döblin mit der Einholung des Schreibprozesses in den Binnenraum seines Romans nicht daran gelegen, eben die Entstehung seines Romans im Roman zu verdoppeln, wie es etwa in André Gides „Falschmünzer“ geschieht (da wird bekanntlich von der Entstehung eines Romans gesprochen, der „Die Falschmünzer“ heißt); noch seinem Roman einen Roman als Textgeschichte anzuhängen (also etwa einen Roman von der „Entstehung des Dr. Faustus“ zu schreiben).

Vielmehr legt das Bild von Inkubation, Geburt, von Mutter und Kind nahe, dass Döblins Vorstellung eines Sprachprozesses bedeutet, einen Sprachraum aufzuschließen, der sich noch diesseits fest formalisierbarer, gewissermaßen individualisierter Aussagen befindet und in dem bestimmte Trennungsprozesse: der von Mutter und Kind, von Autor und Text, von Signifikat und Signifikant noch nicht stattgefunden hat. Ein Sprachraum, der noch mütterlich spendet und wuchert, in dem das Material noch kinetisch und verschiebend begegnet, musikalisch organisiert und rhythmisch strukturiert ist, nicht logisch. Kurz, der seltsame Vor-Raum, den Döblin hier projektiert und den ich bisher ‚Magen‘ genannt habe, scheint mir in dieser extrem verkürzten Andeutung jener Konzeption zu ähneln, die Julia Kristeva in der „Revolution der poetischen Sprache“ etwas kryptisch zu entwerfen versucht hat: Der literarische Text realisiere, dass vor der formalisierbaren Aussage und in ihr und durch sie hindurch ein vorgängiger Prozess der Semiose weiterwirke, der jedoch im selben Atemzug, in dem er endgültig zu sich finde – als sauberer Satz, als klare Scheidung von Signifikat und Signifikant mit transzendentalem Subjekt – in Vergessenheit gerate. Ein Prozess, in dem das sprechende, schreiende, sabbernde, begehrende kindliche Subjekt noch nicht von den energetischen Schüben seines Körpers und noch nicht von den präverbalen, glottischen, geräuschhaften Äußerungen seiner Stimme getrennt sei. Im literarischen Text kehrten diese Energetica – so Kristeva, so auch Döblin – als Verschiebung und Verdichtung, als Musikalität, Proportionalität und Architektonik wieder; das aber nicht als frühkindliche oder psychotische Textur – das bedeutete für beide eine unzulässige Regression –, sondern eingepuppt in die Zwänge gesellschaftlicher Sprache, die dem ödipal sozialisierten Individuum gegeben sind. Döblin macht im „Wallenstein“ und in dessen historiografischen Quellen nicht nur Sprache spürbar – das wäre schön, aber recht eigentlich banal –, sondern setzt mehr noch jene, wie Kristeva sagt, semiotischen Schichten frei, in denen Subjekt, Körper und Geschichte durch die Sprache und in der Sprache als im Prozess kommunizieren. Zumindest könnte das die ungewöhnliche Triebenergie dieses Erzählens einsichtig machen, die den großen Roman auszeichnet; ein Roman, in dem die Magengeräusche der Geschichte konvergieren mit der Freisetzung einer Sprache, deren semiotischen Schübe von einem Subjekt reden, das nicht nur über Nahrung sprechen, sondern auch Sprache essen kann. „Aus fünftausend Herzen wurde Gottes Name Tag und Nacht angerufen gewälzt gekaut gebissen geschlungen.“

Anmerkung der Redaktion: Dieser Vortrag wurde im Mai 2005 auf dem Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquium in Mainz gehalten. Die erweiterte Fassung können Sie als pdf-Dokument hier herunterladen. Eine überarbeitete und erweiterte Fassung findet sich unter dem Titel „Magengrimmen – Alfred Döblins Roman Wallenstein“ im Kongressband, der im Juni 2007 unter folgendem Titel erscheint: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Mainz 2005. Alfred Döblin zwischen Institution und Provokation (= Jahrbuch für internationale Germanistik, Bd. 77). Peter Lang Verlagsgruppe, Bern u.a., 2007.