Lachen gegen die Angst

Michael Degen jüdische Kindheit im Berlin der NS-Zeit

Von Anja HöferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Höfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zusammengekauert hockt der Junge in seinem Versteck. Er hört, wie in nächster Nähe die Bomben detonieren und sieht, wie die Explosionen die Nacht für Sekunden hell erleuchten. Aus der lebensbedrohlichen Situation wird für den Elfjährigen bald ein Spiel: Bei jedem neuen Bombenhagel, der über der Stadt niedergeht, errät er anhand der Explosionsgeräusche mit zunehmender Präzision die unterschiedlichen Bombenkaliber. Nicht immer wird es ihm gelingen, die eigenen Ängste so spielerisch zu überlisten. Die größte Gefahr kommt für ihn nicht von den feindlichen Bombern aus der Luft, sondern sie lauert im eigenen Land: Er ist Jude.

Mit dem wachen, gleichwohl abgeklärten Blick eines früh gealterten Kindes schildert der Schauspieler Michael Degen seine Erfahrungen als jüdischer Junge im Berlin der NS-Zeit. Er ist sieben Jahre alt, als sein Vater, ein Jude russischer Herkunft, im September 1939 von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert wird. "Konzentrationslager, überlegte ich mir, sind Lager, in denen man Konzentration lernt." Es sind diese, von Degen wie beiläufig eingestreuten Sätze, die den Leser plötzlich bis ins Mark treffen, weil sie hinter der unbedarften Vorstellungskraft des Kindes die barbarische Wirklichkeit umso grausamer aufscheinen lassen.

Zwei Wochen nach seiner Entlassung im April 1940 stirbt der Vater Jakob Degen an den Folgen der Misshandlungen, die man ihm im KZ zugefügt hat. Drei Jahre später beginnt für den elfjährigen Michael und seine Mutter Anna, die den Räumungen der Gestapo in letzter Minute entkommen, eine atemberaubende Odyssee durch die zerstörte Reichshauptstadt Berlin. Achtmal müssen sie auf ihrer Flucht das Versteck wechseln. Unter den "arischen" Namen Max und Anna Gemberg erfinden sie sich neue Identitäten und entwickeln eine immer größere Perfektion in der Kunst der Lüge und Verstellung - ihrem wichtigsten Schutzschild gegen die ständige Todesdrohung. Erschüttert verfolgt man, wie schon der Elfjährige regelrecht um sein Leben lügt, und wie reif und besonnen er in lebensgefährlichen Situationen reagiert, wenn etwa die Mutter in eine unerwartete Passkontrolle gerät.

Unsentimental, klar und sachlich wird dies protokolliert, und es tut dem Buch gut, dass es für den schweren Stoff einen so leichten Ton findet. Degen vermag dem dargestellten Grauen sogar durchaus komische Seiten abzugewinnen. Ganz ähnlich wie in dem grandiosen Benigni-Film "Das Leben ist schön", dem das Buch in manchen Zügen gleicht, wird das Lachen hier zur Überlebensstrategie. Immer wieder beobachten wir, wie Mutter und Sohn in Situationen der Todesangst Skurriles und Aberwitziges bemerken oder ersinnen und darüber in schallendes Gelächter ausbrechen. Der ganze Wahnwitz der nationalsozialsozialistischen Rassenideologie etwa enthüllt sich schlagartig, wenn der Elfjährige amüsiert darüber nachsinnt, ob es sich um "Rassenmassengrabschande" handele, sollten er und seine Mutter nach einem tödlichen Bombenangriff in einem deutschen Kriegsmassengrab beerdigt werden.

Degens erzählerisches Talent bewährt sich besonders in der Darstellung jener couragierten Helfer, die den Verfolgten Unterschlupf gewähren und, indem sie das Leben anderer schützen, das eigene Leben riskieren: darunter die herbe und dennoch warmherzige russische Aristokratin Ludmilla Dimitrieff, die Empfänge für Nazi-Größen veranstaltet, während sie die jüdischen Freunde in den Hinterzimmern ihrer Wohnung versteckt; der Halbjude Kochmann, ein literaturbegeisterter Lehrer, der dem Jungen in einer der eindrücklichsten Szenen des Buches noch während des Bombenangriffs Vorträge über die Satzstruktur bei Thomas Mann hält, und die Deutsche Erna Niehoff, die ihre Hilfsbereitschaft schließlich mit dem Tod bezahlen muss. Vor allem diesen Menschen, die nicht zur Masse der Mitläufer zählten und auf ihre eigene Art Widerstand leisteten, sind Degens tief beeindruckende Erinnerungen gewidmet.

Titelbild

Michael Degen: Nicht alle waren Mörder. Eine Kindheit in Berlin.
Econ Verlag, München 1999.
331 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3430120497
ISBN-13: 9783430120494

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