Der Roman, der keiner sein wollte

Peter Webers (Musik-)Roman "Die melodielosen Jahre"

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Weber. Schweizer Schriftsteller. Free-Jazzer. "Ist seit 1992 mit einem Generalabonnement der Schweizerischen Bundesbahn viel unterwegs", heißt es in seinem Lebenslauf. Völlig zu Recht, wenn es auf seine Werke dermaßen niederschlägt. Nach der "Bahnhofsprosa" (2002) legt Peter Weber nun "Die melodielosen Jahre" vor, einen Roman, der diesen Namen nicht wirklich verdient, dafür aber ein Universum von Zügen, Reisenden, Landschaften, Bahnhöfen und damit verbundenen Erinnerungen des Erzählers und der ganzen Menschheit ist. Wollte man darin die Geschichte eines vollständigen Schicksals oder einer Umwandlung finden, die man üblicherweise in einem Roman sucht, so ginge man leer aus.

Dabei fängt es vielversprechend und durchaus zusammenhängend an. Den ersten Reiseeindrücken und Erinnerungen des Erzählers folgt plötzlich ein Todesfall. Ein Vater, sein Leben, sein Sohn Oliver, alles wird auf das Genaueste beschrieben. Ein Anfang wie für einen Roman - doch dieser folgt einfach nicht. Stattdessen begibt sich Oliver auf Reisen, zuerst mit seiner namenlosen Geliebten, dann alleine. Musikalische Reisen um genau zu sein, oder solche, auf denen Musik, die sich schon im Titel nebelhaft ankündigt, als Reisezweck und zugleich musikalische Kulisse ein doppeltes Dasein führt und kaum als einheitsstiftend durchgehen kann. Mit und durch die Musik macht sich das Buch zu einer sprachlichen Improvisation - wie auch von der musikalischen Improvisation und der elektronischen Musik viel die Rede ist.

Mit der Musik tritt auch die Melodielosigkeit des Alltags auf, ein karges musikalisches Nebeneinander aus Städten des ehemaligen Ostblocks, aus der schweizer Perspektive und mit Webers Humor und scharfer Beobachtungsgabe fixiert.

"Menschen, die sich selbstverständlich durch die Nacht bewegten, entlang von Tönen, denen sie zuvor nie begegnet waren, Reizleitung unterirdisch, es war keine Musik, es waren Raumerweiterungssignale, einleuchtend, lockend, alarmierend, stehende Veränderung, laufende Wandlung [...] Als Sprechen plötzlich unmöglich wurde, als etwas dazwischen kam: Verhärtung, Aufweichung, Verhärtung. Als eine grundsätzliche Unterbrechung kam, die so nicht angekündigt worden war, als neben ihnen, zwischen ihnen plötzlich riesige Tiere auswuchsen. Als Tonkörper neben ihnen standen, die nicht mehr Musik zu nennen waren. Als sie in den großen Rechner fielen, der plötzlich überall war."

Oder: "Sie tauchten draußen zwischen Plattenbauten wieder auf, sie sahen zum ersten Mal mit ihren Ostschweizeraugen diese Gebäude, von denen sie nur gehört hatten, die Musik hallte wieder, solange die Tür offen war, Blocksiedlungen des Schweizerischen Mittellands, und doch ganz anders, farblos. Klarstes frühes Morgenlicht, Sonne ohne Gnade, Konturen schärfend, Weiß werfend, Grau malend, schneidend hell."

Berlin - dumpfe Techno-Schläge der DDR zwischen den Festklängen der Wiedervereinigung. Warschau - die Nachtwächter im Kulturpalast, von dem unvergänglichen, polnischen Chopin schwärmend. Istanbul - der Markt der summenden Verkäufer und rot ausrufenden Wecker. Dazwischen immer wieder die grünen Weiden und Almglocken der Schweiz.

Ein sprachlicher Genuss des Augenblicks ist das, der sich in den kurzen, gut erzählten Episoden zu einem Aquarell hinter der Zugscheibe verschwimmender Landschaften verliert. Inmitten des sanften Rattern des Hochgeschwindigkeitszuges finden sich Kapiteleinschnitte, die sich in Bahnhofstationen verwandeln, auf denen niemals klar ist, wohin die Reise tatsächlich geht. Wie das bei imaginierten oder erinnerten Reisen so ist, sie werden mit Stimmungen, Farb- und Klangassoziationen gesättigt, die in Traumsequenzen enden.

Die Reise als Musik, die Musik als Zeit, und das Ganze als ein Trip ins Ungewisse.


Titelbild

Peter Weber: Die melodielosen Jahre.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
190 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518417744

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch